1947 veröffentlichte der englische Lyriker W. H. Auden sein Werk The Age of Anxiety (Das Zeitalter der Angst), welches Berühmtheit erlangte.
Mittlerweile sind über siebzig Jahre vergangen, und, wie es scheint, könnte heute ein neues Zeitalter in Versen besungen werden, das Zeitalter der Fälschungen.
Ein gebürtiger Russe, der - polyglott - sich bestens auskennt sowohl im Osten wie im Westen, sagte in einem privaten Kreis dieser Tage, daß selbst er, als Russe, Mühe habe, eindeutig zu erkennen, was an russischen Verlautbarungen der Wahrheit entspreche.
Kein Wunder, denn wir sind in das Zeitalter der Fälschungen eingetreten. Dem vorausgegangen ist die Abschaffung der Wahrheit.
Dostojewskis bekanntes Diktum fällt einem ein: »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.« Man müßte ergänzen: Wenn es keinen Gott und also keine absolute Wahrheit gibt, dann herrscht die Fälschung und also das Zwielicht.
Es wäre allerdings verkürzt zu meinen, es ginge nur um Kriegspropaganda in einem aktuellen Konflikt. Der Krieg ist ubiquitär, und dies seit langem. Nur: Es gehört zu den forcierten Fälschungen, daß das ideologische Kriegsgeschehen, welches uns permanent überrollt, nicht als solches bezeichnet, sondern als Akt der Humanität verkauft wird. Was ist es zum Beispiel anderes als eine Kriegserklärung, wenn seit Jahren die Wahrheit schlechthin, die sprichwörtlich nackte Wahrheit, nämlich die unverrückbare Wahrheit des biologischen Geschlechts, als beliebig klassifiziert wird? Oder wenn jährlich ungeborene Kinder, deren wahres Antlitz im bildgebenden Verfahren des Ultraschalls sichtbar ist, millionenfach durch Abtreibungen getötet werden?
Alles fließt, so die neue Devise. Die Wahrheit ist nicht länger Fundament, sondern Treibsand. Die Konsequenz dieser Wüste ist, daß die conditio humana in die Fänge der Fälscher gerät. Einer der Propagandisten der perfekten Fälschungen fabuliert vom Menschen der Zukunft, die jetzt angebrochen sei. Der homo sapiens sei ad acta gelegt. Der Mensch sei nichts weiter als eine Maschine, die hackbar ist. Der zukünftige Homunculus als Cyborg.
Man wird an Nietzsche erinnert. »Ich erkenne dich wohl«, heißt es im Zarathustra, »du bist der Mörder Gottes! Laß mich gehn. Du ertrugst den nicht, der dich sah - der dich immer und durch und durch sah, du häßlichster Mensch! Du nahmst Rache an diesem Zeugen!«
Die Rache der Konstrukteure des neuen babylonischen Turms ist deutlich spürbar in der aggressiven Verbissenheit, mit der sie den christlichen Schöpfergott und jedes noch so entfernte Konzept von Wahrheit attackieren. Tabula rasa, so das Programm der Technokraten. Versprochen wird dafür das künstliche Paradies. Doch was wir tagein tagaus erleben, sind nicht die paradiesischen Beglückungen, sondern die faulen Früchte der Fälschungen.
»Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!«, so noch einmal Nietzsche.
Ist damit alles aussichtslos? keineswegs. Es bedeutet vielmehr, daß der Kampf um die Wahrheit im Zeitalter der Fälschungen härter und reiner wird.
Es tut gut, in diesem Zusammenhang die Vision des heiligen Nikolaus von Flüe zu bedenken, die Vision, die unter dem Namen Pilgervision bekannt wurde und die in souveräner Sicht die Wahrheit, der keine Fälschungen und kein Fliehen und keine Gebreste was anhaben können, aufstrahlen läßt. Darin heißt es:
»Ihm deucht im Geiste, daß ein Mann in Pilgers Gestalt zu ihm kam: Einen Stab in der Hand, den Hut hinten abwärts gekrempelt und im Mantel. Er kam von Sonnenaufgang, stand vor ihn hin und sang: Alleluia. Und als er sang, trug die Gegend seine Stimme; das Erdreich und alles, was zwischen Himmel und Erde war, unterstützten seine Stimme wie die kleinen Orgeln die Große. Drei vollkommene Worte kamen aus seinem Munde und endeten so genau mitsammen, wie die stark vorschnellende Feder in das Schloß schießt. Drei vollkommene Worte waren es; keines fiel mit den anderen zusammen und doch redete er nur ein Wort.
Als der Pilger diesen Gesang vollendet, bat er den Menschen um eine Gabe. Und plötzlich hatte dieser - weiß nicht woher - einen Pfennig in der Hand. Der Pilger zog den Hut und empfing den Pfennig darein. Und der Mensch hatte nie gewußt, daß es eine so große Ehrwürdigkeit sei, eine Gabe in den Hut zu empfangen. Der Mensch wunderte übel, wer der sei und von wo er käme. Und er stand vor ihn und sah ihn an.
Da hatte er sich verwandelt: Barhaupt war er jetzt, in blauem oder grauem Rock und ohne Mantel, ein so adeliger wohl geschaffener Mann, daß er ihn nur mit merklicher Lust und Begehr anschauen konnte. Sein Antlitz war gebräunt, so daß es ihm adelige Zier gab. Seine Augen schwarz wie der Magnet, seine Glieder so wohlgestaltet, daß es eine besondere Herrlichkeit an ihm war. Und obwohl er in den Kleidern steckte, hinderten diese nicht, seine Glieder zu sehen.
Und wie er ihn so unverdrossen ansah, heftete der Pilger seine Augen auf ihn. Da erschienen viele, große Wunder; der Pilatusberg versank in den Erdboden, und offen lag die ganze Welt, so daß alle Sünden in der Welt sichtbar wurden. Und es erschien eine große Menge Menschen und hinter den Menschen stand die Wahrheit, denn alle hatten ihr Angesicht von der Wahrheit abgewandt. Und es trat an allen ein großes Gebrest am Herzen zutage, so groß wie zwei Fäuste zusammen. Der Eigennutz war dieses Gebrest, der irrte die Leute so stark, daß sie des Mannes Angesicht nicht zu ertragen vermochten, so wenig ein Mensch die Feuerflammen erleiden kann. Und in grimmiger Angst fuhren sie umher und zurück mit großem Schimpf und Schand; er sah sie fern hinfahren. Und die Wahrheit - der Mann - blieb da.«
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