Wer kennt sie nicht, die biblische Geschichte des Verlorenen Sohnes (Lukas-Evangelium 15,11ff).
Rembrandt hat die Rückkehr des Sohnes in einem berühmten Bild dargestellt.
Der Sohn in seinen zerrissenen, zerlumpten Kleidern. Der Vater, der sich zum Sohn, der vor ihm kniet, sanft herabbeugt und gleichsam segnend beide Hände auf die Schultern des Sohnes legt.
Der Maler hat, wie man wohl sehen kann, zwei unterschiedliche Hände gemalt: Eine männliche und eine weibliche. Offensichtlich will er zum Ausdruck bringen, daß dieser Vater, der im Gleichnis für Gott selbst steht, sowohl die väterliche Autorität wie die mütterliche Zärtlichkeit in sich vereint. Und der Sohn hat eben dies dringend nötig zur Heilung: Die Autorität und die Zärtlichkeit.
Doch muß man zugleich ergänzen, daß diese beiden grundlegenden Haltungen biblisch betrachtet sein wollen und damit im Licht von oben.
Im Gleichnis, welches Jesus erzählt, geht der Vater dem verlorenen Sohn entgegen, ja mehr noch: Er lief dem Sohn entgegen (20). Für den Juden ein Unding. Denn derjenige, der die väterliche Vollmacht repräsentiert, bleibt sitzen. Erst recht nicht rennt er dem Verlorenen entgegen, das wäre Schwächung und Verdunkelung der väterlichen Autorität.
Doch der Vater des Gleichnisses läuft. Tatsächlich. Das aber heißt, es geht nicht um den Buchstaben des Gesetzes, sondern um den Geist des Gleichnisses, und dieser Geist ist Licht und Leben, weswegen beide, Vater und Sohn, im Licht portraitiert sind.
Und was die mütterliche Zärtlichkeit betrifft, so ist sie kein sentimentales Verzärteln, sondern reiner Ausfluß der Liebe, die, wie es im Johannesevangelium über Jesus heißt, weiß, was im Menschen ist (s. Joh 2,25).
Noch einmal anders gesagt: Rembrandt zeigt ohne Worte, worin die Liebe Gottes besteht. Gott steigt herab. Gott beugt sich nieder. Gott erniedrigt sich. Damit der zerrissene Sohn die bedingungslose Liebe seines Vaters spüren kann, neigt sich der Vater ihm zu. Denn die Bewegung des Neigens und Herabsteigens ist die fortwährende Bewegung Gottes uns gegenüber.
Als die Israeliten von den Zwingherren Ägyptens geknechtet werden und als Gott sich dem Moses im brennenden Dornbusch offenbart, sagt Gott zu seinem Knecht: Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen… (Exodus 3,7.8). Gleichwohl bleibt das Volk störrisch, trotzig, im Aufbegehren. Und dieser dumme Eigensinn wiederholt sich durch die Geschichte hindurch. Wir sind die Stolzen, wir sind die, die trotzig das Erbe ausgezahlt haben wollen, die mit lächerlich erhobenem Kopf davonlaufen, die es vorziehen, bei den Schweinen zu hausen, während der allmächtige, vollkommene Vater uns entgegenläuft, uns, den Dummen, weil er niemanden verloren sehen will. Denn, wie es in der Mitte des Evangeliums heißt: Er hatte Mitleid mit ihm (20).
Der Vater, den wir im zentralen Gebet der Christenheit als Vater unser anrufen, ist kein kalter Herrscher, sondern der unendlich Geduldige, der unendlich Barmherzige und der unendlich Mitleidende. Der Sohn hat es endlich verstanden. Er steht nicht vor dem Vater, sondern er kniet. Freiwillig. Denn seine Freiheit beginnt erst jetzt.
Grafik: Rembrandt, Die Rückkehr des Verlorenen Sohnes. wikicommons.