Es ist der 22. Mai 1958.
Jérôme Lejeune ist 32 Jahre alt. In dem Arbeitsheft, welches er seit dem 10. Juli 1957 gewissenhaft führt und in das er seine wissenschaftlichen Ergebnisse einträgt, notiert er unter obigem Datum die spektakuläre Zahl 47. Zum ersten Mal entdeckt er bei der genetischen Chromosomenanalyse eines sogenannten mongoloiden Kindes das Vorhandensein eines überschüssigen 47. Chromosoms anstelle der regulären 46 Chromosomen.
Im selben Jahr, im Dezember 1958, nach einem dreimonatigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, kommt es zu einer Bestätigung des Erstfunds. Bei zwei weiteren Fällen nämlich identifiziert Lejeune erneut die Chromosomenanomalie, und zwar beide Male am 21. Chromosomenpaar.
Diese Entdeckung ist, das kann man ohne Übertreibung sagen, bahnbrechend. Die Genetik beziehungsweise Zytogenetik wird mit Lejeunes Entdeckung revolutioniert, denn zum ersten Mal ist nun mit wissenschaftlicher Methodik ein direkter Zusammenhang zwischen einer geistigen Beeinträchtigung und einer chromosomalen Anomalie dokumentiert worden.
Lejeune wäre, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, zum bleibenden Star der wissenschaftlichen genetischen Gemeinschaft reüssiert. Tatsächlich aber wird er in weiten Kreisen der scientific community zur persona non grata. Wie das?
1969 wird Lejeune der renommierte William Allan Memorial Award verliehen. Es ist die höchste Auszeichnung der genetischen Zunft. Lejeune, der seit seiner Entdeckung in maßloser Enttäuschung feststellen muß, daß man seine genetischen Erkenntnisse zur pränatalen Diagnostik mißbraucht und das heißt zur eugenischen Eliminierung von ungeborenen Kindern, die Trisomie 21 aufweisen, steht vor der Wahl: Soll er bei der Preisverleihung eine klassisch harmlose Dankesrede halten und den medizinischen Mißbrauch verschweigen oder soll er seine ärztliche Verantwortung wahrnehmen und für die leuchtende Wahrheit des Lebens Zeugnis ablegen?
Während der Preisverleihung in San Franzisco, angesichts der versammelten namhaften Genetiker, drückt Lejeune in seiner Ansprache unumwunden seine Ablehnung der eugenischen Praktiken aus. Er sagt: »Töten oder Nichttöten, das ist die Frage. Seit Jahrhunderten hat die Medizin stets zugunsten des Lebens und der Gesundheit gekämpft, gegen die Krankheit und gegen den Tod. Wenn wir diese Grundlagen ändern, ändern wir die Medizin: Unsere Aufgabe ist es nicht, die Strafe zu verhängen, sondern die Strafe umzuwandeln.« Und er schlägt vor, daß man das berühmte Nationale Gesundheitsinstitut ersetzen solle durch ein Nationales Tötungsinstitut, denn dieser Name würde zu dessen Aktivität besser passen.
Die Reaktion der Honoratioren ist eisiges Schweigen.
Die steile Karriere Lejeunes ist danach beendet. Darüberhinaus: Mit seinem entschiedenen Auftreten gegen die Abtreibung in Frankreich, die mit der Loi Veil schließlich per Gesetz eingeführt wird, ist sein wissenschaftliches Prestige für etliche Kollegen erledigt. Forschungsgelder werden ihm gestrichen, auf Kongresse wird er nicht länger eingeladen, man bedroht ihn selbst körperlich.
Er hatte sich keinen Illusionen hingegeben. Nach seiner Rede in San Fransisco hatte er in sein Tagebuch geschrieben:
»Ich weiß sicher, und ich wuße es schon lange vorher, daß die wissenschaftliche Welt mir diese Missetat nicht verzeihen würde. Nonkonformist genug zu sein, um noch an die christliche Moral zu glauben und zu sehen, wie sie in voller Harmonie mit der modernen Genetik steht, das ist halt zu viel des Guten. Wenn jemals Chromosomen eine vage Chance auf den Nobelpreis hatten, so weiß ich, daß ich dem mit meiner Mahnung den Hals umgedreht habe. Aber zwischen dem und dem Halsumdrehen von kleinen Kindern, da gab‘s nichts zu überlegen.«
In der Tat, da gibt es nichts zu überlegen.
Grafik: fondationlejeune