Samstag, 18. Juli 2020

Othello und Hercule Poirot

Agatha Christie ist nicht zu unterschätzen.

Eine platte Krimischriftstellerin war sie nie. Die Aufdeckung eines Mordes oder einer Serie von Morden ist, bei aller begreiflichen Spannung, mehr als ein banales who did it. Die Wahrheit soll ans Licht kommen, darums geht‘s Christie. Und selbst wenn die story noch so verzwickt und aussichtslos scheint – die Wahrheit, daran läßt die Autorin keinen Zweifel, ist stärker. Der Täter wird gefaßt.

Wer wissen will, wie leidenschaftlich Dame Agatha dem Dunkel auf den Leib rückt, um dem Licht der unbestechlichen Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, sollte den letzten der Hercule Poirot Romane lesen: Vorhang (Curtain). Hier stellt sich Christie in extremer Zuspitzung der Tatsache des Bösen.

Poirot, der Meisterdetektiv, sieht sich in seinem letzten Fall nicht konfrontiert mit einem Mörder unter anderen, sondern gleichsam mit dem mysterium iniquitatis, dem Bösen schlechthin, welches böse sein will und dessen Bosheit letztlich nicht aufhebbar ist in einer intellektuellen Spekulation oder gar Lösung.

Der Verbrecher ist vom Schlag eines Jago. Nicht umsonst gibt Shakespeares Othello und dazumal die Gestalt des Jago das Leitmotiv des Romans. Jago alias Stephen Norton, so der neue Jago in Christies Roman, ist der Drahtzieher im Hintergrund. Er stachelt an zum Mord, er ist der Hinterhältige, der Bösartige, der Fallensteller, der die tödlichen Schlingen legt, in welchen die unschuldigen Opfer sich heillos verlieren.

Norton wird schließlich von Poirot zur Strecke gebracht. Danach stirbt Poirot. Auch dies eine geniale Zuspitzung Christies. Denn die Konfrontation mit dem abgründig Bösen, mit dem Archetypus Kain, ist eine auf Leben und Tod. Poirot tötet Norton, wissend, daß sein Akt der Justiz auf die Gnade Gottes angewiesen ist (»Ich ziehe es vor, mich ganz in die Hände des bon Dieu zu geben. Möge seine Strafe oder seine Gnade mir rasch zuteil werden!«). Und wenig später ist er selbst tot. Seine Kräfte sind aufgezehrt. Die letzte Anstrengung ist zugleich die endgültige. Norton ist hingerichtet. »Das Loch in Nortons Stirn – es sah aus wie ein Kainszeichen...«, so endet Poirots finaler Fall.

Wie exakt die Moral Christies abläuft, wird ersichtlich, wenn man den Roman einer anderen Autorin zum Vergleich heranzieht, die gleichfalls einen Mörder ins Zentrum rückt. Gemeint ist Tom Ripley in Patricia Highsmiths gleichnamigen Romanen.

Im ersten Roman der fünf Ripley-Bände begeht der talentierte Mr. Ripley kaltblütig zwei Morde. An der Aufdeckung dieser Verbrechen ist Highsmith nicht interessiert. Der Mörder geht bezeichnenderweise am Ende des ersten Romans wie unbescholten davon, um weiterhin  zu morden. Wahrheit? - Fehlanzeige.

René Clément, der 1960 den Roman unter dem Titel Nur die Sonne war Zeuge verfilmte, war dieses amoralische Ende offensichtlich zu arg. Alain Delon, der Ripley spielt, bleibt in Cléments Film am Ende nicht ungeschoren, sondern sitzt in der Falle, die zuschnappt. Er ist des Verbrechens überführt.

Highsmith selbst gestand: Sie stelle dar den »unzweideutigen Triumph des Bösen über das Gute, und ich freue mich daran.« Über Cléments moralisierenden Filmschluß äußerte sie sich abfällig. Ripley ist der Mörder, der weiter morden darf. Noch im letzten der Ripley-Romane entgeht er jeder Verurteilung.

Wie unerschütterlich anders Agatha Christie. An seinen Freund Colonel Hastings, der mit dem Meisterdetektiv den letzten Fall bestreitet, schreibt Poirot zu guter Letzt einen Brief, der posthum, nach Poirots Tod, den Fall bis in die letzten Details aufdeckt. Da heißt es, und wie könnte es anders sein: »Und deshalb schreibe ich Ihnen diesen Brief. Sie müssen die Wahrheit erfahren!«

Voilà, mon ami: Die Wahrheit.