Sie sind nicht zu übersehen, die Tätowierungen. Unter den Vierzigjährigen sind mittlerweile etliche, vielleicht sogar die Mehrzahl, tätowiert. Und wenn es so viele tun, hört man auf zu fragen, warum es so viele sind. Es ist halt eine Mode, oder ein Trend, oder eine Laune. Wozu groß weiter fragen?
In einem früheren Beitrag (hier) haben wir davon geschrieben, daß ein hoher Prozentsatz der heutigen jungen Generation zu den sogenannten Abtreibungsüberlebenden gehört. D.h.: Sie leben und haben zugleich Geschwister, die nicht leben.
Wie das? Die Antwort: Weil ihre Geschwister durch Abtreibung oder Verhütung (Stichwort: Frühabtreibung) das Licht der Welt nicht erblickt haben.
Das ist freilich kein harmloser statistischer Befund, sondern für die betroffenen Überlebenden ein zutiefst verstörender. Denn was ist mehr aus der Lebensbahn werfend, als zu ahnen oder zu wissen, daß man in einer Familie aufwächst oder aufgewachsen ist, in der ein Familienmitglied getötet wurde, während man selbst zum Wunschkind stilisiert wurde und also überleben durfte?
Diese Zusammenhänge berücksichtigend, versteht man besser, warum diese Generation mehr und mehr in die virtuellen Räume flieht. Wer die Wirklichkeit, und das meint hier an allererster Stelle die Familie, als einen Ort der unberechenbaren, lebensgefährlichen Bedrohung erfährt, der wird aus diesem Schrecken verständlicherweise hinaus wollen – er flieht. Und was ist naheliegender, als in das omnipräsente Online-Angebot zu fliehen. Im Internet ist man selbst der Herr. Wenn es zu bedrohlich wird, dann kann man über den Bildschirm wischen oder einen neuen Klick setzen, und schon ist man raus aus der Gefahrenzone und mitten in einer neuen, sterilen virtuellen Welt.
Mit der Wirklichkeit geht dies allerdings nicht. Diese bleibt. Man kann sich nicht herauskatapultieren aus der eigenen Familie in eine Familie, in der alles klinisch keimfrei ist. Die Wirklichkeit ist da und bleibt da. Ein durchbohrtes Herz ist ein durchbohrtes Herz.
Was hat das mit den Tatoos zu tun? - Wir meinen sehr viel.
Was ist die nackte Wirklichkeit schlechthin? Unser Leib. Die Redensart sagt nicht umsonst: Niemand kann aus seiner eigenen Haut. Der Körper ist widerständig. Er zeigt sich uns jeden Tag. Er ist da, wie halt die Wirklichkeit da ist.
Der schwer Verletzte – und Abtreibungsüberlebende sind schwer Verletzte – wagt nun ein Äußerstes. Bereits gewohnt daran, die Wirklichkeit, die er als traumatisierend erfährt, zu manipulieren, beginnt er der gleichsam nackten Wirklichkeit wortwörtlich zu Leibe zu rücken: Seinem Körper.
Wenn es ihm gelingt, den Leib, dieses stets sichtbare Faktum, zu transformieren, dann beweist er sich damit, daß er stärker ist als die Wirklichkeit, die ihn seelisch tagein tagaus bedrängt. Ich erfinde mich neu, also bin ich. Die Haut wird neu geboren, unter Tätowierungsschmerzen, aber oft genug zeigt die neue Formung – verräterisch genug - das zugrundeliegende Movens, welches diese Häutung bestimmt, und welches nicht das Leben ist, sondern der Tod, derart, daß Totenschädel, in allen unmöglichen Variationen, zu den bevorzugten Tätowierungsmotiven avancieren.
Wer wissen will, wie die Welt ist, in der wir leben, sollte die Augen aufmachen. Die Wahrheit zeigt sich. Auch in Tätowierungen. Bei ästhetischen Kriterien sollten wir jedoch nicht stehenbleiben. Es geht um weitaus mehr. Wir sollten lernen, tiefer zu schauen. Besser zu schauen. Denn die wahren Zusammenhänge warten darauf, wahrgenommen zu werden.
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