Nach unzähligen durchzechten Sonnabenden ist es ein Sonnabend – der Tag, der im liturgischen Leben der katholischen Kirche seit je als Tag der Muttergottes begangen wird - , an dem die Wende in Matts Leben eintritt. Die voraufgegangene Woche ist er, wiewohl er ansonsten ein zuverlässiger Arbeiter ist, bei seiner Arbeitsstelle nicht angetreten. Er trinkt und trinkt. Der Tiefpunkt ist erreicht. Am Sonnabend stellt er sich, zusammen mit seinem Bruder Philipp, an einer Straßenecke auf, wo auf jeden Fall seine Arbeitskollegen mit dem soeben ausgezahlten Lohn vorbeikommen müssen. Matt, der kein Knauser ist und dessen Großzügigkeit man kennt, hofft, daß die Kollegen heute ihn und den Bruder zum Stammtisch einladen werden, da sie beide zurzeit mittellos sind. Aber es kommt anders. Ganz anders.
Die Kollegen grüßen zwar kurz, gehen aber dann an Matt und seinem Bruder vorbei, ohne ein Wort der Einladung auszusprechen. Das trifft. Als er sich schließlich abwendet und nach Haue geht, ist er nicht mehr derselbe. Am selben Sonnabend, wenige Stunden später, sagt er seiner Mutter, die sich wundert, daß ihr Sohn heute früher als sonst nachhause gekommen und zudem nüchtern ist: „Ich mache das Versprechen.“
Elizabeth weiß sogleich, was damit gemeint ist. Denn das Versprechen ist ein Begriff, den man in Dublin kennt. Begründet durch den Kapuzinerpater Father Matthew, ist das Versprechen ein Nüchternheitsgelübde und meint die Tatsache, daß ein Alkoholkranker vor Gott verspricht, zukünftig sich des Alkohols zu enthalten. Eben dazu ist Matt nun bereit. Er macht sich auf den Weg zum Erzbischöflichen Priesterseminar, legt dort bei einem Priester die Beichte ab und gibt das Versprechen der Enthaltsamkeit für zunächst drei Monate. Am nächsten Tag, dem Sonntag, empfängt er nach einer furchtbaren Nacht zum erstenmal wieder nach langer Zeit den Leib des Herrn.
Die nächsten Wochen, Monate und wahrscheinlich auch Jahre sind Zeiten des Kampfes, der Versuchungen, der Entzugserscheinungen. Wenn die Versuchung ihn zu überwältigen droht, sagt er sich, daß er ja nach drei Monaten wieder zu trinken beginnen könne. Tatsächlich aber legt er nach Ablauf der drei Monate neuerlich das Versprechen ab und zwar wiederum für drei Monate; nach dieser Frist erneuert er das Versprechen bis zum Ende des Jahres und schließlich auf immer.
Einmal hält er es nicht mehr aus und geht in ein Gasthaus. Er will wieder trinken. Aber merkwürdigerweise kommt in dem geschäftigen Betrieb niemand zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen, so daß er schließlich aufsteht und das Lokal verläßt. Aufgrund der überwundenen Versuchung faßt er den Entschluß, fortan kein Geld mehr in der Tasche mitzunehmen.
Ungezählte andere Male hält er sich bis spätnachts in den Kirchen Dublins auf, um dort, im schützenden Raum des Heiligen, vor jeder Anfechtung beschützt zu sein. Und Gott kämpft für Matt.
So an dem Tag, als der Dämon ihn schrecklich quält. Er will zur heiligen Kommunion gehen, aber eine unbezwingbare Macht hält ihn an den Boden gefesselt, so daß er wie gelähmt ist, während ihm die verführerische Stimme einflüstert, er werde mit dem Trinken nie aufhören, es sei umsonst. In der zweiten Kirche, die er aufsucht, wiederholt sich diese schreckliche Trostlosigkeit. Und ebenso in der dritten Kirche. Auf den Stufen der Dubliner Pro-Kathedrale fällt er schließlich auf die Knie und betet mit ausgebreiteten Armen: Jesus, hab' Erbarmen, Maria, hilf, Jesus, hab' Erbarmen, Maria, hilf. Und es wird ihm geholfen.
Denn Matt hört nicht auf zu beten. Er weiß aus Erfahrung, daß er die Kraft zum Durchhalten nur im Gebet findet. Aus Matt wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten der große, sehr große Beter und Büßer. Der Bußpsalm Misere gehört zu seinen bevorzugten Gebeten. Täglich betet er den Rosenkranz, seine Liebe zur Muttergottes ist kindlich-überschwänglich. Die verlorenen Jahre der Sucht und des Eigennutzes bereut er und wandelt sie gleichsam zu Gold in dem neuen Leben asketischer Einfachheit und Strenge.
Die Mutter, die er nach dem Tode des Vaters zu sich in sein bescheidenes Zimmer nimmt, sieht, in der Nacht aufwachend, wie ihr Sohn aufrecht kniend im Gebet versunken ist. Matt selbst ist alles Zurschaustellen zuwider. Er ist der Arbeiter, der seiner Arbeit nachgeht und im Stillen unauffällig weiterbetet, auch, wenn möglich, in den Pausen während der Arbeit, wo er sich bescheiden in einem unbemerkten Winkel zurückzieht.
Drei Stunden Schlaf genügen ihm. Um fünf Uhr früh geht er zur heiligen Messe. Danach nimmt er ein karges Frühstück zu sich und geht zur Baustelle, wo er um sechs Uhr mit der Arbeit beginnt. Als die Frühmesse eines Tages auf ein Viertel nach sechs Uhr verlegt wird, kündigt Matt seine Stelle und tritt in einen Holzhandel ein, da ihm nur durch diesen Arbeitswechsel gewährleistet ist, weiterhin vor Arbeitsbeginn am heiligen Meßopfer teilzunehmen. Denn das Zentrum seines Lebens ist die Heilige Messe und der Empfang der heiligen Kommunion.
An Sonntagen besucht er gleich mehrere heilige Messen. Zeugen, die ihn bei der heiligen Feier wahrgenommen haben, sprechen von seiner wunderbaren Andacht und dem ehrfürchtigen Hingerissensein in das Geheimnis. Man sieht ihn stets kniend, aufrecht, ohne sich abzustützen. Er setzt sich nie in der heiligen Messe. Wenn das Kirchentor noch geschlossen ist, kann es sein, daß der Mesner, wenn er das Tor aufsperrt, Matt bereits betend auf den Kirchenstufen antrifft. Andere sehen ihn vor dem Beginn der heiligen Messe immer wieder betend vor der Statue Unserer Lieben Frau am Marienaltar oder sie sehen ihn versunken vor dem Kreuz.
Zum Gebet kommt das Fasten und kommt das Almosengeben. Er ißt wenig. Seine Bedürfnisse schränkt er auf das Lebensnotwendige ein. Zwei Anzüge genügen ihm, einer zum Arbeiten und der andere zum Gang in die Kirche, denn wenn man den Herrn besucht, zieht man sich festlich an. Sein Bettpolster ist ein Holzbrett. Von dem schwer verdienten Lohn gibt er das, was ihm übrigbleibt, weg – für arme Familien, für die Priesterausbildung, für die Mission. In dem einzig erhaltenen Brief von seiner Hand, beigelegt einer Spende und verfaßt am 31. Dezember 1924, einem halben Jahr vor seinem Tod, stehen die rührenden Zeilen: „Matt Talbot hat die letzten 18 Monate nicht gearbeitet. Ich war krank, und der Priester und der Arzt hatten mich schon aufgegeben. Ich denke, ich kann nie wieder arbeiten. Hier haben Sie ein Pfund von mir und zehn Schillinge von meiner Schwester.“
Das ist Matt. Der auferstandene Matt. Zwei Stecknadeln, angebracht in Kreuzesform am Ärmelaufschlag erinnern ihn unauffällig an die Botschaft der Liebe, die ihn trägt und verwandelt und antreibt. Die Kollegen erleben ihn stets freundlich und geradlinig. Sie merken, daß Barney, wie sie ihn nennen, ein anderer geworden ist, auch wenn ihnen entgeht, wie tief die Wandlung ist, die Matt ergriffen hat. Matt ist nicht länger der Mann, der seine Abende in Wirtshäusern vergeudet, aber das heißt nicht, daß er auf seine Kollegen herabschaut. Er betet auch für sie und hilft, wo er zu helfen vermag. Und er ist Mitglied der Gewerkschaft, weil ihm das bedrückende Los der Arbeiter zu Herzen geht.
Dublin verläßt Matt nie. Seine Welt ist hier, sein Wirkungskreis ist hier: verborgen, unaufdringlich, in treuer, alltäglicher Beharrlichkeit. Er bleibt unverheiratet, wiewohl es die Aussicht auf eine Heirat gibt. Doch nachdem er eine Novene gebetet hat, weiß er, daß der Herr von ihm will, unverheiratet zu bleiben. Stattdessen ist er Mitglied frommer Gemeinschaften und Mitglied des Dritten Ordens der Franziskaner. Am 4. Mai 1890 unterschreibt er seine Mitgliedschaft im Herz-Jesu-Bund, wo er die lebenslange Abstinenz verspricht sowie die Sühne für die Sünden der vergangenen Sucht.
Und die Heiligen werden seine Freunde. Die frühen irischen Mönche in ihrer Entschiedenheit, ihrer Unbedingtheit und ihrem Feuer haben es ihm angetan. Matts Bußpraxis gemahnt an deren Eifer. Aber auch die Heiligen, die in ihrer Jugend gesündigt haben, ziehen ihn an. Er liest die Bekenntnisse des heiligen Augustinus und er liest über Margarete von Cortona. Und dann all die anderen heiligen Freunde, die ihm Vertraute werden: Der heilige Ignatius von Loyola, die große und die kleine Theresia, die heilige Caterina von Siena, der heilige Franz von Sales, Kardinal Newman und naturgemäß Franziskus, dessen Braut Armut in Matts Herz das offene, willfährige Echo findet.
Denn Matt bleibt der arme Matt, er gehört den Kleinen an, die der Herr im Evangelium seligpreist. Doch dieser Kleine, der gerade mal zwei Jahre Schulbildung absolviert hat, ist kein tumber Tor, sondern ein eifriger Leser, der Nahrung findet im geliebten göttlichen Wort der Bibel, welches er tagein tagaus aufnimmt, in den Heiligenviten, in den Schriften der geistlichen Lehrmeister und in den Lehren der Kirche. Und wenn Matt auf Stellen trifft, die er nicht auf Anhieb versteht, dann bittet er seine Priesterfreunde, die ihm bereitwillig weiterhelfen auf seinem Weg der Heiligkeit, um Aufklärung.
Denn auch dies zeigt Matts Leben: Wer die Kirche liebt, der wird von der Kirche herrlich geführt. Wunderbare Priester stellt die Vorsehung an Matts Seite. Nachdem ihn jahrelang der Dominikanerpriester Father James Walsh geistlich begleitet und in die Reichtümer der spirituellen Überlieferung eingeführt hat, findet er nach dessen Tod 1915 in dem fünfzehn Jahre jüngeren Monsignore Michael Hickey, einem heiligmäßigen Priester und Beichtvater, den neuen geistlichen Seelenfreund, der ihn unterstützt, führt und oftmals in seinem bescheidenen Zimmer besucht, wenn nötig auch, um seinen Schützling um dessen fürsprechendes Gebet zu bitten.
Matt, der robuste, zuverlässige Arbeiter, der die letzten Jahrzehnte eigentlich nie ernsthaft krank gewesen ist, ist bereits in seinen Sechzigern, als er in einem Dubliner Spital stationär aufgenommen werden muß. Er ist herzleidend. Die Arbeit am Holzplatz fällt ihm zusehends schwerer. Aber er liebt seine Arbeit, und die vier Wochen im Spital, fern von seiner geliebten Beschäftigung, müssen ihm wie eine Art Zeitverschwendung vorgekommen sein. Wenn es irgend geht, ist er in der Kapelle des Spitals und kniet vor dem Tabernakel. Als er schließlich entlassen wird, freut er sich darauf, bald wieder arbeiten gehen zu können. Tatsächlich aber ist die Zeit, die ihm noch verbleibt, eine Frist, die gekennzeichnet ist durch Abbau der Kräfte, Krankheit, Spitalsaufenthalte und Vorbereitung auf den Tod.
Dabei bleibt Matt der anspruchslose Patient, der nichts begehrt, nichts fordert. Als man ihn eines Tages auf seinem Zimmer vermißt und überall nach ihm sucht, findet ihn die zuständige Schwester schließlich dort, wo Matts Zuhause ist: In der Kapelle, beim Herrn. Und als sie ihm leise Vorhaltungen macht, entgegnet Matt mit seinem üblichen ruhigen Lächeln: „Ich habe den Schwestern und den Doktoren gedankt, und ich dachte, es ist nur richtig, dem Großen Heiler Dank zu sagen.“
Der Große Heiler kommt zu Matt am 7. Juni 1925. Es ist der Dreifaltigkeitssonntag. In der Frühe hat Matt die heilige Messe in der St. Franz Xaver Kirche besucht. Danach geht er wie gewohnt nach Hause zu seinem spärlichen Frühstück. Da er sich schwach fühlt, ruht er ein wenig aus, um sodann aufzubrechen und – wie an so vielen Sonntagen in den letzten Jahren und Jahrzehnten – eine zweite Sonntagsmesse zu besuchen. Er macht sich auf den Weg zur Zehnuhrmesse in der Erlöserkirche. Es ist ein sommerlicher Tag. Als er auf der Straße zusammenbricht, kommt eine Frau, die den Sturz gesehen hat, mit ihrem Sohn hinüber zu dem auf den Boden Liegenden. Sie tragen ihn über die Straße, wollen ihn ins Haus bringen, legen ihn aber zu guter Letzt nieder. Es ist gegen neun Uhr vierzig. Und vielleicht hört Matt, als er hier, am Boden liegend, schließlich seine Seele dem Schöpfer zurückgibt, noch einmal die Glocken der Erlöserkirche, die sonntäglich zum Heiligen Meßopfer läuten.