Freitag, 10. Mai 2019

Matt. Teil II

 
 
Das Dublin, in dem Mathew Talbot am 2. Mai 1856 geboren wird, ist nicht die glitzernde Weltstadt des 3. Jahrtausends. Nicht einmal zehn Jahre vor Matts Geburt wird Irland von einer schrecklichen Hungersnot heimgesucht, der etwa eine Million Menschen zum Opfer fallen. Dublin, die spätere Hauptstadt der grünen Insel, beherbergt in seinen Fabriken und in seinen Docks am Hafen eine Vielzahl von Arbeitern, die mühsam ihr Leben fristen. In großen, eintönigen Mietskasernen in den Vorstädten leben oft vielköpfige Arbeiterfamilien auf engstem Raum beisammen; so auch die Familie Talbot.

Zwölf Kinder sind sie, neun Söhne und drei Töchter. Matt ist der Zweitälteste. Zwei Brüder sterben noch im Kindesalter. Vier weitere Brüder sterben als junge Männer, offensichtlich vom Alkohol verbraucht. Charles, der Vater, ist gleichfalls Trinker, wie überhaupt die Trinksucht unter den Arbeitern das grassierende Übel ist.

Elizabeth Talbot, Charles Frau, versucht ihr Bestes, um den alltäglichen Belastungen und dem drohenden Ruin gegenzusteuern. Elfmal muß die Familie übersiedeln. Die Trunksucht droht die Familie zu zerstören. Doch Elizabeth bleibt der stille Halt in der Familie, die unermüdlich Betende, die sich am Rosenkranz festhält und die Hoffnung nicht aufgibt. Ihrem Gebet und ihren Bitten ist es zu verdanken, daß schließlich der Vater mit der Wirtshausgeherei aufhört und seinen Lohn nicht länger vertrinkt.

Der Trinker

Mathew, kurz Matt genannt, absolviert, für arme Arbeitersöhne durchaus nicht unüblich, nur zwei Jahre Schule und tritt sodann mit erst zwölf Jahren ins Arbeitsleben ein - er wird Laufbursche in einer Weinhandlung. Das Arbeitsleben sagt ihm zu, zumal er kein Freund von langem Schulbanksitzen ist. Aber in der neuen Umgebung lernt er bald das, was ihn die nächsten Jahre verheerend niederdrückt. Ebenso wie eine Vielzahl seiner Arbeitskollegen nimmt er seinen an den Wochenenden ausgezahlten kärglichen Lohn, um ihn abends mit anderen Zechkumpanen in einer Kneipe zu vertrinken. Man kann ihm nicht nachsagen, er sei das Muttersöhnchen oder gar der Grünschnabel, der noch der Milch bedarf. Matt, obgleich erst zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre alt, hält mit den Großen mit, und wenn er abends nach Hause kommt, legt er sich nieder, um seinen Rausch auszuschlafen.

Matts Vater, inzwischen trocken, sieht das Verhängnis und versucht, sei es durch Worte, sei es durch gelegentliche Prügel, den Sohn zu ändern. Aber keine Maßnahme fruchtet. Matt spürt zwar bisweilen die Scham des Säufers angesichts des Elends, welches er anrichtet, aber dies ändert nicht sein Verhalten. Die Sucht ist bereits dermaßen stark, daß Matt zum Gewohnheitstrinker geworden ist, der vom Trinken, trotz mancher gutgemeinter Vorsätze, nicht mehr lassen kann.

Der Vater, der im Hafen arbeitet, beschafft seinem Sohn dort eine neue Stelle, in der Hoffnung, daß dieser Arbeitswechsel und die Nähe des Vaters Matt zur Raison bringen. Aber auch diese Maßnahme erweist sich als vergeblich. Der Whisky ist fortan Matts bevorzugtes Getränk. Das Groteske dabei: Etliches, was an Whiskyflaschen durch die Hände der Zechbrüder geht, stammt aus den Lagerräumen, über die Matts Vater die Aufsicht führt. Diese empörende Entdeckung geht an Matt nicht spurlos vorüber. Zwar ist er bereits zu sehr dem Alkohol verfallen, um mit dem Trinken zu brechen, gleichwohl nagen die bedrückenden Zustände derart an ihm, daß er schließlich nach zwei Jahren die Arbeit kündigt. Bevor er eine neue Stelle ausfindig gemacht hat, vermittelt ihn sein Vater als Hilfsmaurer in eine neue Firma.

Matt ist jetzt achtzehn Jahre alt. Das Elend seiner Trinksucht wird noch weitere zehn Jahre andauern. Jahre, in denen er zugleich erlebt, wie, bis auf den ältesten Bruder John, alle anderen seiner Brüder unter dem Einfluß des Alkohols zusehends verfallen.

Die Wochentagslöhne verschwinden in den Kneipen. Zuhause gibt Matt seiner Mutter bisweilen einen minimalen Beitrag als Kostgeld, während Elizabeth weiterhin betet, verzeiht, ermahnt, hofft. Und ist die Scham, die trotz aller Verdunkelung in Matts Leben schwach glimmt, nicht auch Frucht der mütterlichen Tränen und Gebete? 

Eines Sonnabends, an dem Matt wie gewohnt in der Stammkneipe sitzt und mit den Zechkumpanen eine Sauftour abhält, kommt ein Fremder ins Gasthaus, der eine Geige unter dem Arm trägt. Der Unbekannte wird zum Mittrinken eingeladen. Der Whisky fließt reichlich. Als man merkt, daß die Rechnung heute höher ausfallen wird, entwendet Matt zusammen mit einem Kumpel klammheimlich das Instrument des Fremden und versetzt es gegen Bares in einem benachbarten Lokal. Darauf geht es zurück in die Stammkneipe. Als man spätnachts aufbricht, bemerkt der Fremde, daß seine Geige verschwunden ist. Er versteht die Welt nicht mehr, er versteht nicht, was man ihm angetan hat. Seine Klage, die unbeantwortet bleibt, wird Matt in seinem späteren Leben als peinigenden Stachel der Erinnerung immer wieder spüren. Und er wird in Wirtshäusern und Armenunterkünften nach diesem Fremden suchen, um wiedergutzumachen, was er dem Geigenspieler angetan hat. Und da er ihn nicht findet, wird er das Geld, das er damals für die versetzte Geige einstrich, in den Opferstock einer Kirche einzahlen, um heilige Messen für den Fremden lesen zu lassen und so seine Schuld zu begleichen.


Grafik: Statue von Matt in Dublin. wiki commons by Keresaspa - Own work, CC BY 3.0.