Freitag, 8. März 2019

»Kein Künstler ist jemals morbid.«

Die Fabel ist bekannt.

Ein gut aussehender Zwanzigjähriger wird von einem Maler portraitiert. Als das Bild schließlich fertig ist, ist der Portraitierte von der dargestellten eigenen Schönheit wie berauscht. Warum, so fragt er sich, wird er altern, das Portrait jedoch in unverminderter Makellosigkeit bestehen bleiben. Ist das nicht ungerecht?

Und angesichts dieses Portraits verkauft er in einem Akt entsetzlicher Verblendung seine Seele: Das Portrait soll altern, während er selbst, Dorian Gray, der ewige Adonis bleibt.

Der Roman erzählt den Fortgang und Ausgang dieses bösen Tauschs. Denn tatsächlich altert das Bild, während der Portraitierte seine Jugendlichkeit wahrt.

Und mehr noch. Während Gray zunehmend in Lastern versinkt und schließlich den Maler ermordet, zeigt das Portrait unerbittlich den Verfall des Dargestellten, dessen Verruchtheit und Lasterhaftigkeit. Bis schließlich, am Ende des Abstiegs, Gray, angeekelt von seiner mörderischen Unzucht, sich besinnt, den Beginn einer Bekehrung erprobt und in einem Anfall rasender Aufwallung sein Portrait zu vernichten sucht, dabei jedoch sich selbst tödlich trifft – er stirbt, während das Portrait überlebt.

Und erst jetzt, im Finale, ist Dorian Gray Dorian Gray. Nicht länger der junggebliebene Narziß, sondern der am Boden Liegende, der Tote und Verweste, der mit allen entsetzlichen Schwären einer mißhandelten Seele Gezeichnete, der offenbare Sünder.

Hat also Oscar Wilde, der Verfasser dieser schaurigen Story, eine Moritat geschrieben?

Das Bildnis des Dorian Gray hat alle Zutaten einer Moritat. Und wenn Wilde der große Künstler gewesen wäre, für den ihn manche halten mögen, hätte es tatsächlich eine große Moritat werden können. Aber herausgekommen ist ein fadenscheiniger Zwitter, kein Vollendetes. Und das liegt an Wilde selbst.

Denn das eigentlich Abgründige an seinem Roman ist die Gestalt des Lords Henry Wotton. Wotton ist der Verführer des jungen Gray. Und Verführer meint hier Verführung im schrecklichsten Sinnes des Wortes. Er ist derjenige, der seinen Schützling, dessen anfängliche Reinheit Wilde des öfteren betont, mit giftigen Sottisen und zynischen Spitzfindigkeiten unausgesetzt becirct, bis der von ihm Hypnotisierte der Pestilenz des dekadenten Lebemannes erliegt.

Und diese Kapitulation des Jüngeren wird dadurch erleichtert, daß die reiche Gesellschaftsschicht, in der sich Wotton und Gray bewegen, die ätzenden, haarsträubenden Pretiosen des Dandys Wotton bestaunen und beklatschen. Je abstruser dessen Theorien, desto willfähriger machen sie unter den gelangweilten Snobs der viktorianischen High Society die Runden.

Am Ende liegen Leichen am Boden. Ein Ermordeter, zwei Selbstmorde, ganz zu schweigen von den seelisch Ruinierten. Und was macht Wilde?

Wilde läßt seinen verdorbenen Helden untergehen und dessen Portrait überleben. Cave: Die Kunst, auf sie kommt es an, das ästhetische Credo ist unantastbar. Aus dem Ausbund des Schaurigen geht das reine Portrait hervor.

Eben damit leistet Wilde seinem Roman den Bärendienst. Denn große Kunst hätte unweigerlich den zur Rechenschaft gezogen, den das Urteil treffen muß – den depravierten Lord. Doch diesen läßt Wilde ungeschoren davonkommen. Damit verrät er die wahre Kunst. Denn jede große Kunst ist, da sie den wahren Gesetzen des Lebens und nicht den künstlichen Paradiesen des fin de siècle folgt, per se moralisch. An Dickens hätte Wilde dies ablesen können.

Das wahrhaft Ungeheure des Romans ist folglich diese Tatsache: Das Scheusal geht leer aus. Ohne Strafe. Ohne Ächtung. Ohne die kleinste Blessur. Und das liegt darin, daß Wilde in die destruktive Raffinesse seines Lords verliebt ist. Er legt dem Verführer ein genüßliches Paradox nach dem anderen in den Mund, und der Leser spürt hinter Wotton den selbstgefälligen agent provocateur Wilde. Wo es geraten gewesen wäre, sich von Wotton zu distanzieren, um die Gewichte von Gut und Böse eindeutig zu markieren, verwischt Wilde die Grenzen und gefällt sich - auf Kosten der Integrität der Kunst - im glitzernden Rausch der leeren gesellschaftlichen Capricen.

Gray ist Opfer beider – von Wotton und von Wilde. Die Unentschiedenheit Wildes, sein Liebäugeln mit der Schlange der Verführung, läßt ihn über seinen jugendlichen Helden - der von einem Buch, welches Wotton ihm aushändigt, endgültig zersetzt wird – sagen: »Das Buch, das Dorian vergiftet oder vervollkommnet (...)« (so in einem Brief Wildes an R. Payne).

Wie bitte? Vergiften oder vervollkommnen? Was nun? Hier gibt es nur ein entweder/oder. Tertium non datur. Wer beides in einem Atemzug nennt, der liefert Gray ans Messer, das aber heißt, der verleiht dem morbiden Lord und seinem perfiden falschen Glanz den Nimbus des genialen spiritus rector.

Poor Wilde. »Kein Künstler ist jemals morbid«, heißt es in einem der vorangestellten Motti des Romans. Es wäre schön gewesen, wenn sich Wilde an diese Maxime gehalten hätte.