«Alle Vorkommnisse unseres Lebens, was immer es sei, ohne Ausnahme, sind Liebeszeichen Gottes. Die Anfänger im Erlernen dieser Sprache glauben, nur einige Worte sagten: Ich liebe dich. Die diese Sprache kennen, wissen, daß alles nur eine einzige Bedeutung hat. Gott hat kein Wort, um Seinen Geschöpfen zu sagen: Ich hasse dich.»Kann man das wirklich so sagen? Sind tatsächlich alle Vorkommnisse unseres Lebens Liebeszeichen Gottes?
Nehmen wir ein extremes Beispiel. Im August 1945 werden die Städte Hiroshima und Nagasaki von Atombomben zerstört. Wo sind da die Liebeszeichen Gottes, von denen Simone Weil schreibt?
Natürlich meint Weil nicht, daß Gott der Verursacher dieser Katastrophen ist, denn dann wäre Gott nicht mehr der Gott der Liebe, sondern der Gott, der die Zerstörung und den Tod will. Wenn wir also den Satz recht verstehen wollen, müssen wir tiefer schauen.
Am besten ist es, wir lassen einen Zeugen zu Wort kommen. Der Röntgenologe Dr. Takashi Nagai, der mit seiner Familie in Nagasaki lebte, hat die verheerenden Auswirkungen der Atombombe, die am 9. August 1945 auf Nagasaki fiel, erfahren. Sein Haus wird dem Erdboden gleich gemacht. Unter Schutt und Asche findet er die verkohlten Überreste seiner geliebten Frau Midori. Neben dem Knochenstaub etwas Glitzerndes – der geschmolzene, wiewohl noch erkennbare Rosenkranz Midoris. Nagai selbst, schwer verwundet, wird wenige Jahre später, nach einer längeren Zeit der Bettlägerigkeit, an der Strahlenkrankheit sterben.
Im November 1945, zur Zeit, als der erkrankte Nagai noch zu gehen vermag, lädt ihn der Bischof von Nagasaki ein, bei der Totenmesse für die Opfer der Katastrophe als Vertreter der Laien eine Ansprache zu halten. Er bereitet sich intensiv auf diese Rede vor. Und dann spricht er die folgenden, ungeheuerlichen Worte aus:
»Gibt es da nicht einen tiefgründigen Zusammenhang zwischen der Vernichtung Nagasakis und dem Ende des Krieges? War Nagasaki vielleicht das auserwählte Opfer, das Lamm ohne Makel, das als brennendes Ganzopfer auf einem Opferaltar getötet wurde und damit für die Sünden aller Nationen während des Zweiten Weltkriegs Sühne leistete? (...) Laßt uns dankbar sein, daß Nagasaki als brennendes Ganzopfer auserwählt wurde! Laßt uns dankbar sein, daß die Welt durch dieses Opfer Frieden erhalten hat und Japan die religiöse Freiheit.«
In der Wüste Nagasakis ringt sich Nagai den Blick ab, der durch die Wüste hindurch in das Herz Gottes schaut. Der christliche Gott ist der Gott des Kreuzes. Aus der schrecklichsten Katastrophe der Weltgeschichte – Golgota – macht Gott das Liebesopfer seines Sohnes, welches uns, den Sündern, Rettung bringt.
Die Atombombenasche Nagasakis ist die sichtbar gewordene Sünde der Sünder. Doch da ist ein Arzt, der diese Sünde stellvertretend und sühnend auf sich nimmt und damit an Gottes ewigem Plan der Liebe mitarbeiten will. Der, mit anderen Worten, das Kreuz umarmt und so – ohne Haß, ohne Verbitterung – Mitarbeiter Gottes wird, indem er die unverbrüchliche Liebe Gottes in die Wüste hineinträgt und bekennt: »Als ich mit Gott durch die nukleare Wüste von Urakami (dem Vorort Nagasakis, wo er wohnt) ging, hat Er mich die Tiefen Seiner Freundschaft gelehrt.«
Während Exerzitien fragte einmal der Exerzitiengeber die Exerzitanten: Was sieht die Muttergottes am Kreuz stehend?
Viele Antworten wurden gegeben. Sie sieht die Brutalität der Henker. Die Blindheit der Beteiligten. Das Blut und die Schrecken und die Qualen. Und all diese Antworten stimmten naturgemäß.
Doch der Exerzitienmeister sagte: Maria sieht die Barmherzigkeit des Vaters.
Verstehen kann man das nicht, oder nur sehr begrenzt. Denn wer würde sich anmaßen, das Kreuz verstehen zu wollen? Letztlich wird das Kreuz nicht verstanden, sondern erlitten. Und derjenige, der sich durch das Leiden hindurchführen läßt, der sich im Feuer dieses Leidens ausbrennen läßt, der irgendwann nur mehr Gott im Blick hat, der kommt schließlich kraft der Gnade dahin, in allen Vorkommnissen des Lebens die unfaßbaren Liebeszeichen Gottes zu sehen. Und dann, so geschehen beim Arzt Takashi Nagai und bei vielen anderen, wird man ein Tröstender.
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