Freitag, 14. Dezember 2018

Der Augenblick


für M. T.

Behüte mich wie den Augapfel, den Stern des Auges, heißt es im Psalm 17,8. Die Vulgata, die traditionelle lateinische Übersetzung, schreibt sehr konkret: custodi me ut pupillam oculi (behüte mich wie die Pupille des Auges).

Man könnte dies für blumige, metaphorische Redeweise halten. Die Hebräer in ihrem semitischen Denkgestus übertreiben halt gerne.

Der Festtag Unserer Lieben Frau von Guadalupe, den die katholische Kirche am 12. Dezember begeht, kann einen dagegen eines Besseren belehren.

Wie bekannt sein dürfte, gehört das Gnadenbild von Guadalupe aus dem Jahre 1531 zu den sogenannten Acheiropoieta, das heißt zu den nicht von Menschenhand geschriebenen Ikonen. Die Entstehung des Bildes, sein Ursprung, seine Konsistenz, seine Bildsprache sind gänzlich mirakulös.

Nur kurz: In der vierten Erscheinung der Muttergottes, die dem getauften Indio Juan Diego auf einem Hügel nahe der heutigen Hauptstadt Mexiko gewährt wird, sagt Maria zu dem Seher, er solle auf den Gipfel des Hügels gehen und dort (es ist Winterzeit, der Boden ist steinig!) Blumen pflücken. Dies sei das Zeichen, welches dem zuständigen Bischof die Echtheit der Erscheinungen beweise.

Juan Diego tut, wie ihm aufgetragen ist. Er findet die Blumen, er pflückt sie, er sammelt sie in seinem Umhang und geht zurück zur Muttergottes. Diese ordnet die Blumenpracht und schickt ihn weiter zum Bischof.

Als man den Seher schließlich in der bischöflichen Residenz einläßt und Juan Diego vor dem Oberhirten und weiteren Versammelten steht und seinen Umhang öffnet, um die wundersamen Blumen zu zeigen, offenbart sich während des Öffnens ein weitaus größeres Wunder: Auf dem Umhang Juan Diegos entsteht, vor den Augen der Versammelten, das Bild der Muttergottes – seitdem von ungezählten Millionen von Gläubigen ehrfurchtsvoll verehrt.

Erst die Technologie der Neuzeit brachte neue Details zum Vorschein, die dem Gnadenbild weiteren Glanz verleihen.

So ergab eine Computeranalyse, in welcher die Augen der Muttergottes immens vergrößert wurden, daß in den Pupillen Unserer Lieben Frau offensichtlich exakt die Personen widergespiegelt sind, die das damalige Ereignis vor Ort erlebten.

Und damit erfährt die Bitte des biblischen Beters, der Schutz vor den Frevlern sucht und daher Gott bedrängt, Er möge ihn, den Bittenden, hineinnehmen in Seine Pupille, mit anderen Worten in Sein Eigenstes, um dort, im Blick Gottes, geborgen zu sein – diese dringliche, kraftvolle Bitte erfährt im Licht Guadalupes ihre himmlische Bestätigung.

Ja, so ist es. Gott hört auf das Flehen Seiner Kinder. Er schickt Seine Mutter, und diese Mutter ist keine distanzierte Beobachterin, sondern die Mit-Leidende und Mit-Fühlende und Mit-Erlöserin. Mein liebstes, kleinstes Söhnchen, so Maria zu Juan Diego, bin ich denn nicht hier, deine Mutter? Ja, die Mutter ist da, und als solche nimmt sie ihre Schutzbefohlenen in ihren Blick, so daß jeder Augenblick tatsächlich mütterlicher Augen-Blick ist.

Grafik: wiki commons