Samstag, 25. August 2018

Der Nachbar I

Photographie, griech. Lichtbild. (Duden)


»Ich bin«, so mein Nachbar, »von Geburt an blind gewesen.«

Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen. Wir hatten einander gegrüßt, vielleicht zwei, drei Sätze gewechselt, das Übliche, aber dann war jeder seiner Wege gegangen. Ich weiß nicht, was es gewesen ist, daß uns diesmal zusammengeführt hat, anders als die anderen Male.

Wir standen eine Weile auf dem Stiegenabsatz. Ich hätte das nächste Stockwerk höher gehen können, um sogleich in meiner Wohnung zu verschwinden, aber ich blieb stehen. Er sagte: »Warum gehen wir nicht auf einen Kaffee?« Ich war einverstanden. Ich folgte ihm in seine bescheidene Wohnung. Er wies mir einen Platz in einem kleinen Zimmer, dann machte er sich in der Küche zu schaffen, um nach wenigen Minuten zurückzukehren und den Kaffee zu servieren. Alles war sehr einfach, schlicht, die Einfachheit an einem einfachen Septembernachmittag. Auch unser Gespräch war einfach. Er erzählte, aber es war nicht die Neugier, die er befriedigte. Er erzählte vielmehr so, wie einer, der ein notwendiges Wissen, das ihm geschenkt worden ist, weitergibt an einen anderen, nicht deswegen, weil er mit seinem Wissen glänzen will, sondern weil jetzt die Zeit zur Weitergabe ist und diese Zeit zu nutzen ist. Ein anderer hätte Scham gehabt oder Hemmung, aber an diesem einfachen Nachmittag lagen alle Dinge im klaren Licht des Nachsommers, nichts war belastend, nichts traurig machend. Ich hörte zu, ich war der Beschenkte.

»Die Schwangerschaft meiner Mutter war regulär verlaufen, es hatte keine Komplikationen gegeben, auch nicht bei der Entbindung. Zwar war die damalige Technik bei weitem nicht so fortgeschritten wie heutzutage, es gab zum Beispiel noch keine Ultraschallgeräte, aber selbst wenn es diese gegeben hätte, ich bin gewiß, man hätte keine Irregularitäten festgestellt. Meine Mutter freute sich auf mich. Meine Eltern hatten lange auf ein Kind gewartet, aber es hatte vier Jahre gedauert, bis ihr Kinderwunsch Erfüllung fand. Und ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Man war davon ausgegangen, daß ich, wenn auch ein spätes Kind, so doch ein Kind wie tausend andere sein würde. Es dauerte eine Weile, bis man bemerkte, daß ich blind zur Welt gekommen war. War es nicht grausam? Ich hatte, wie man gemeinhin sagt, das Licht der Welt erblickt, aber tatsächlich hatte ich am 25. September jenes Jahres nicht das Licht der Welt erblickt, denn ich war blind. Meine Mutter überlegte, was sie falsch gemacht haben könnte, sie suchte nach einer Schuld in ihrem Leben oder ihrem Verhalten, die meine Blindheit ursächlich bedingt haben könnte. Desgleichen mein Vater, der, wie mir meine Mutter einmal mitteilte, lange Zeit sich in Grübeleien verlor, weil er meine Erblindung für eine Strafe hielt, die statt ihn mich getroffen hatte. Aber da war keine Strafe und kein Vergehen. Keiner konnte den Grund meiner Erblindung nennen, auch die Ärzte nicht. Ich war blind, das war alles. Und da ich nichts anderes kannte als meine Blindheit, richtete ich mich in meiner Blindheit ein. Ich lebte wie fast alle, nur daß ich ohne Augenlicht war. Ich ging zur Schule, ich machte Prüfungen, ich arbeitete halbtags, ich verliebte mich. Wenn ich gefragt wurde, wann ich selbst zum erstenmal um meine Blindheit gewußt hatte, dann erzählte ich die folgende Geschichte: Es war im Alter von vier oder auch fünf Jahren gewesen. Ein Spielkamerad, mit dem ich draußen spielte, sagte zu mir: Schau, wie schwarz der Himmel ist, bald gibt es ein Gewitter. Es war die unbedachte Äußerung eines Fünfjährigen. Aber von diesem Augenblick an wußte ich. Es hatte sicherlich bereits andere Gelegenheiten gegeben, die mich ebenso mit meiner Blindheit konfrontierten, aber diese Gelegenheiten waren spurlos an mir vorübergegangen, sie hatten mich nicht geändert. Nach dem Ausruf meines Spielkameraden jedoch begann eine Verwandlung. Es war ein Zwiespalt, der begann. Ich wußte, ich bin anders. Die anderen sahen den Himmel und die Farben und die Menschen und die Dinge. Ich aber war blind. Doch ich wollte kein Außenseiter sein. War ich nicht ein Mensch wie jeder andere auch? Was verschlug es, blind geboren zu sein? Lag es nicht an mir, aus der Blindheit etwas zu machen? Ich wollte dazugehören, auf jeden Fall, darum begannen ab nun meine Anstrengungen, wie alle zu sein, während gleichzeitig tief innen eine überaus sanfte, unauslöschliche Stimme mich anlächelte und mich anschaute, und ich vermochte, obgleich ich blind war, diese Stimme oder auch diesen Mund  zu sehen, und ich hörte, wie sie zu mir von meiner Blindheit sprach und von meinem Leben und meinen Wünschen und meinem Verlangen, und jedesmal, wenn diese Stimme in gleichsam schmerzender, unendlicher Güte du zu mir sagte oder von meiner Blindheit sprach, so nicht, um mich in der Dunkelheit einzuschließen, sondern im Gegenteil, um meine Wahrheit zu wollen. Und ich? Ich verstand nicht. Nicht, als ob ich diese Stimme nicht gewollt hätte. Es war nicht so, als ob ich einen aktiven Widerstand gegen diese Stimme geleistet hätte. Es war anders. Indem ich das Andere wollte, die Anerkennung, die Zugehörigkeit, das Dazugehören um jeden Preis, bezahlte ich, nicht-wissend wissend, den Preis, daß die Stimme zunehmend leiser wurde, glimmend, beinahe unhörbar. Es war ein Prozeß wie so viele andere, ein Prozeß, von dem man einst sagen würde, daß das Leben halt so ist, daß es Zwänge gibt und Konstellationen, die einem keine Wahl lassen, daß man gebunden ist, daß das Leben im letzten Last ist, die es zu tragen gilt, auch wenn die Last einem den Schweiß in die Augen treibt und der Schweiß den Blick trübt. Das ist das Leben, sagten meine Bekannten. Das ist das Leben, sagte ich und versuchte, mein Leben zu meistern. Ich bekam Auszeichnungen von der Handelskammer, in der Zeitung stand ein entsprechender Bericht, ich ging aus, sonntags ging ich zur Kirche, werktags machte ich Späße, ich bettelte um Zuneigung, ich hatte es geschafft. Ich war wie alle. Verstehen Sie?«

Während seiner Rede hatte ich ihn angeschaut. Er redete sachlich, seine Sätze waren wie Wasser, sehr durchsichtig und klar. Bei der letzten Frage machte er eine kleine Pause und ein Lächeln, kaum merklich, war um seine Lippen. Ich schaute in seine Augen. Die Farbe war braun, ein dunkles Braun, mich erinnerte sie an das dunkle, glänzende Fell eines edlen Tieres. Er schenkte mir nach: »Darf ich?« Ich hielt ihm meine Tasse hin. An der Haustür klingelte es. Er ging eine Weile nach draußen, ich hörte seine Stimme im Vorhaus, einzelne deutliche Worte, dann wieder undeutliche Wortstücke. Als er in das Zimmer zurückkam, setzte er seine Rede, so als sei sie nie unterbrochen worden, fort, in einer Haltung, die ich nicht anders denn als Treue bezeichnen könnte, als eine Art sachlicher Treue, und dieser Gedanke löste gleichsam als Kettenreaktion das Wort Treuhänder in mir aus, und dieser Name schien mir der geeignete für mein Gegenüber: Er war ein Treuhänder, der mir jetzt, in dieser Stunde, etwas, wie es heißt, zu treuen Händen übermittelte, und meine Aufgabe bestand lediglich darin, zuzuhören, dazusein, in Empfang zu nehmen, denn der Treuhänder war mein Nachbar.

(Fortsetzung folgt)