R., ein Freund seit Kindertagen, erzählte mir folgendes:
»Es ist bereits Jahre her, als ich einen älteren Priester in ein Kloster in Bayern brachte, wo besagter Priester eine Woche lang sich ausruhen wollte. Ich war lediglich der Chauffeur, kam allerdings durch diese Tätigkeit in den Vorzug, selbst in dem berühmten Kloster eine Woche lang wohnen zu dürfen.
Jeden Tag dieser Woche nahm ich in der Frühe an der heiligen Messe in der kleinen Kapelle des Klosters teil. Wir waren nur wenige Gläubige in der Frühmesse. Jeden Tag war eine alte Frau unter den Meßbesuchern, die von Anfang an meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht, als sei sie sehr auffällig gewesen oder hätte sich durch irgendein besonderes Gehabe hervorgetan. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Unscheinbarkeit dieser alten Frau war das Beeindruckende. Ihre Kleinheit. Ihr nahezu Verschwinden.
Am Freitag (am nächsten Tag würden wir abreisen), als ich die Kapelle verließ und beim Hinausgehen mit der alten Frau zusammenkam, sagte diese zu mir, ob ich sie nach Hause begleiten wolle. Ich sagte ja.
Sie wohnte in der unmittelbaren Nähe des Klosters, gleichsam an der äußeren Klostermauer. Die Wohnung war, wie ich mir Wohnungen von alten russischen Mütterchen vorgestellt hätte. Tatsächlich war die alte Frau eine vertriebene Wolgadeutsche, die seit Jahrzehnten ihre Bleibe in der bescheidenen Wohnung in Klosternähe gefunden hatte.
Der kleine Raum, in dem sie sich aufhielt und offensichtlich auch schlief, war mit wenigen Möbeln ausgestattet. In der Mitte des Zimmers war, mit einem teppichartigen Überwurf versehen, eine Art Sofa, welches zugleich als Bettstatt diente. Und überall, auf einem kleinen Tischchen oder auf einer Ablage oder an den Wänden oder auf einem Stuhl, waren Heiligenbilder und Ikonen und fromme Andachtsgegenstände.
Dies war ihr Reich. Ich stellte mir vor, wie sie hier betete, Tag und Nacht. Ich glaube nicht, daß sie viele Besucher empfing. Wie anspruchslos sie war, ging mir durch den Kopf. Wie armselig. Sie war umgeben von ihren Freunden, den Heiligen. Sie kannte sie alle, davon war ich überzeugt. Sie umgaben sie, liebevoll, schützend, schweigend, sprechend. Und nachts lag sie gewiß stundenlang wach und betete in ihrem Gebetbuch und ihren vielen Gebetszetteln.
Als ich ging, reichte sie mir einen Geldschein. Ich wollte ablehnen, aber sie wollte es so.
Vielleicht, so dachte ich, als ich den Weg ins Kloster zurückging, gehört sie zu den Gerechten, welche die Welt zusammenhalten. Sie war eine Matrjona, wie die Matrjona, von der Solschenizyn in seiner wunderbaren Erzählung geschrieben hatte …
Ich habe die alte Frau nie mehr wiedergesehen. Aber ich weiß, wir werden uns wiedersehen,« so R., der Freund, »natürlich.«
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