Samstag, 6. Januar 2018
Im Augapfel
»Cantare amantis est.«
Wer liebt, lobsingt. So der hl. Augustinus.
Bei diesem Diktum des Kirchenvaters fällt einem Vieles ein. Zum Beispiel der englische Chor, der zur Weihnacht sein Gloria anstimmt. Oder Psalm 150, mit dem das Psalmenbuch schließt, und wo es zuallerletzt heißt: »Alles, was atmet, lobe den Herrn.«
Schön und gut.
Nur, was ist mit dem Schmerz? Kann auch der Krebskranke in den Lobpreis einstimmen?
Mutter Teresa, so eine Anekdote über die Heilige aus Kalkutta, habe eines Tages einer Schwerkranken in ihren Schmerzen gesagt, Jesus küsse sie. Woraufhin die Kranke geantwortet habe: »Mutter, dann bitte Jesus, daß er aufhört, mich zu küssen!«
Nun wird so manchem der Atem stocken bei dieser Geschichte, und mancher wird vielleicht denken, Mutter Teresa habe hier wenig heiliges Mitgefühl gezeigt und sei maßlos über die Stränge geschlagen. Ist dem so?
Offensichtlich gibt der Ausspruch der kleinen Heiligen in ihrem blauweißen Sari nur dann einen Sinn, wenn wir annehmen, daß für Mutter Teresa tatsächlich Alles in Gottes Händen lag. Es gibt nichts, was Gottes Hand und Blick entgeht, und dieser Blick ist Blick der Liebe.
Das nun heißt, die Aufgabe des Menschen ist es, in diesem Blick der Liebe zu bleiben. Sich von IHM, Gott, anschauen zu lassen. Aber nicht so, als seien wir ein Gegenstand dieser Liebe, sondern vielmehr so, daß wir gewiß sein dürfen, wir sind in Seinem Auge, ja, der Mensch ist in Gottes Augapfel. In den Worten des hl. Paulus: »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17,28).
Der kranke Mensch ist folglich nicht jenseits des Augapfels Gottes, sondern mitten in ihm. Es wird freilich oft so sein, daß der Kranke diese Tatsache nicht länger wahrnimmt. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, es heißt lediglich, daß – wenn wir über den Mitmenschen des Kranken nachdenken – dieser aufgerufen ist, dem Kranken zu helfen, daß der Blick frei wird beziehungsweise wieder frei wird, um recht wahrzunehmen.
Das heißt zugleich, daß die Begleitung des kranken Menschen mich selbst in Beschlag nimmt. Glaube ich tatsächlich daran, daß die Liebe, so ein anderes Pauluswort, alles trägt, allem standhält, niemals aufhört? Habe ich die Wahrheit dieses Wortes in meinem Leben erfahren, wirklich, lebendig, bis in die Knochen hinein?
Wenn ich daran zweifle, daß Gott die Liebe ist, und zwar immer, dann ist es besser, am Bett eines Schwerkranken zu schweigen, statt wohlklingende fromme Phrasen zu dreschen, die zwar richtig sind, aber scheppern, vergleichbar einem Walzer, der Walzer bleibt, aber furchtbar mißtönt, wenn die Platte, die ihn abspielt, zerkratzt ist.
Mutter Teresa durfte der Schwerkranken sagen, was sie sagte. Denn die kleine Heilige stand mit ihrer ganzen Person für die Wahrheit ihrer Aussage ein. Denn Mutter Teresa stand in ihrem Leben tagein tagaus am Kreuz, sie umarmte das Kreuz, und eben dort, am Kreuz, lernt man den Schmerz und das Singen. Dort lernt man die Liebe, die bleibt.
Und die Liebe macht sehend.
Mutter Teresa sah den Kuß Gottes. Und weil sie den Kuß sah, durfte sie vom Kuß Gottes zeugen.
Und mehr noch: Mit Sicherheit wird Mutter Teresa es nicht bei ihrer Aussage belassen haben. Denn wer eine Ahnung vom Kuß Gottes bekommen hat, der weiß, daß es mit einem schönen Satz nicht getan ist. Die Tat muß folgen.
Mit anderen Worten: Mutter Teresa wird die Krebskranke auf ihre Art geliebt haben, über alles Anekdotenhafte hinaus, für sie gebetet haben, sie mitgetragen haben, mit ihr gelitten haben.
Und wenn der Kranke in seinem Schmerz verstummt oder sich auflehnt oder der Verzweiflung nahe ist, dann kann man froh sein, wenn es jemanden gibt, der stellvertrend für den Erkrankten das Lied der Liebe weitersingt, selbst auf die Gefahr hin, für diesen unermüdlichen Gesang belächelt oder verspottet oder mißverstanden zu werden. Einfach weitersingt, bis der Andere irgendwann, nach vielleicht schmerzlichsten Reinigungen, in den Chor der Sänger (wieder) einzustimmen vermag und dankbar ist, daß es welche gab – und wenn es nur ein Einziger war –, der nie aufgehört hat zu singen.