Samstag, 22. Februar 2020

Unergründlich

für B. P.

1493 malt der dreizehnjährige Albrecht Dürer sich selbst und kreiert damit, wie ein zeitgenössischer Kunstwissenschaftler bemerkt, »das wohl erste autonome Selbstbildnis der nachantiken, abendländischen Kunstgeschichte«.

1736. Pergolesi ist sechsundzwanzig, als er sein Stabat Mater komponiert. Wenige Wochen später ist er tot.

1954/55 erscheint in England ein Werk, welches seinen Verfasser weltberühmt macht: Tolkiens The Lord of the Rings (Der Herr der Ringe). Jahrelang hat Tolkien an seinem opus magnum gearbeitet. Und mit diesem Meisterwerk gründet er eine Gattung und vollendet sie zugleich.

Kann man große Kunstwerke verstehen?

Wenn wir meinen, daß Meisterwerke analysiert und filetiert werden können, bis auch der letzte Sehnenrest durchleuchtet ist, dann irren wir. Zur großen Kunst gehört geradezu ihre letzte Undurchdringlichkeit. »Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch / Der Gesang kaum darf es enthüllen« (Hölderlin).

Da wir jedoch in Zeiten leben, in der die Technik und die Naturwissenschaft nahezu täglich Triumphe feiern und die künstliche Intelligenz die Illusion weckt, daß es eines Tages möglich sei, ein stupendes artifizielles Kunstwerk zu generieren, liegt die Einbildung nahe, man könne jedes Kunstwerk derart vermessen und berechnen, daß dessen Geheimnischarakter – was nur eine Frage der Zeit sei – irgendwann hinfällig würde.

Man unterschätzt derart hybrid das, was man Inspiration nennt. Inspiration ist kein Gemachtes, sondern eine Gabe, und zwar Gabe vom Geber aller Gaben, Gott. Da Gott per definitionem der Deus ineffabilis ist, der Unergründliche, haften Seinen Geschenken gleichfalls Merkmale des unauslotbaren Ursprungs an.

Große Kunst vermag uns derart, indem sie der Inspiration gehorcht, in die Demut und das Staunen einzuüben. Ein Mozart darf, in junger Mannesblüte, den Idomeneo komponieren. Im Grunde ein unfaßbares Ereignis. Michelangelo ist gerade mal 25, als er die Pietà, die im Petersdom zu bestaunen ist, schafft. Auch dies ein veritables Wunder.

Doch es geht noch darüber hinaus. Indem der große Künstler das Unergründliche wirkt, bringt er uns die Tatsache nahe, daß der Mensch selbst, wenn wir ihn recht betrachten, unergründlich ist.

Nun mag uns den großen Maler oder Bildhauer oder Musiker oder Dichter betreffend diese Diagnose einleuchten. Aber unser Nachbar? Ist auch er unergründlich, gar ein Kunstwerk?

Durchaus. Aber wie es halt so ist mit den menschlichen Kunstwerken. Oft, allzuoft, sind sie entstellt. Und es bedarf der gründlichen Reinigung, um das verborgene Kunstwerk, die imago Dei, ans Licht zu bringen. Wenn dies glückt, dann kann man nahezu sicher sein, daß ein Ereignis der Liebe stattgefunden hat.




Grafik: wikicommons