Samstag, 1. Februar 2020

Julia

Nennen wir sie Julia.

Julia hat als junge Frau große und sehr klare Vorstellungen über ihr Leben gehabt. Ein liebevoller Ehemann an ihrer Seite, viele Kinder, eine Familie, um die sie sich kümmert und die sie liebt.

Seitdem sind zwei Jahrzehnte vergangen. Heute ist Julia 44. Sie hat zwei Kinder von unterschiedlichen Vätern (einen siebzehnjährigen Sohn und eine vierzehnjährige Tochter), ein drittes Kind hat sie abgetrieben, sie ist alleinerziehend, Bürokauffrau, der liebevolle Mann an ihrer Seite, den gibt es nicht.

Wenn wir miteinander sprechen, redet fast nur sie. Sie erzählt immer wieder von ihren ehemaligen Träumen, von ihrem Scheitern, von ihrem Schiffbruch. Aber mitten in ihrem Kummer und in ihren fahrigen Bewegungen merkt man plötzlich, wie sie sich zusammenreißt und ein ruckartiges Lächeln auf ihrem Gesicht hervorzubringen versucht, denn trotz allen Schlägen, die sie eingesteckt hat, gibt sie nicht auf, sie ist die Mutter, die für ihre zwei Kinder kämpft.

Das Erstaunliche an Julias Geschichte ist, daß sie sich immer wieder, bis auf den heutigen Tag, ausbeuten läßt. Ein anderes Wort fällt mir nicht ein. Männer bestimmten in ihrem Leben, stellten Forderungen, zwangen zur Abtreibung (gegen ihren Willen), nutzten sie aus, ließen sie fallen… und schon stand der nächste Mann in der Tür, und der Mißbrauch ging weiter.

Erst nach etlichen Gesprächen begann ich zu verstehen. Denn die Frage, die sich in meinem Kopf bildete, war die immerselbe: Wieso ließ Julia, die gescheit, redegewandt, auch resolut ist, wieso ließ Julia den jahrelangen Mißbrauch über sich ergehen? Wieso wachte sie nicht nach dem ersten Desaster auf und sagte sich: Nie wieder? Warum diese zahllosen, immer gleichen Variationen des niederdrückenden Musters von Unterdrückung, Blindheit, Ausgeliefertsein?

Ich verstand erst spät. Wir saßen im Kaffeehaus. Julia erzählte wie üblich, doch diesmal teilte sie mir etwas mit, was sie bislang nicht erzählt hatte. Sie sagte, daß ihre Eltern sie hatten abtreiben wollen. Ich fragte sie, woher sie das wisse? Darauf sie: Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater hätten ihr das gesagt. Sie erzählte dies wie eine harte Geschichte unter anderen, mit der sie in ihrem Leben halt klar kommen mußte.

Aber ich verstand plötzlich. Julia hatte es geschafft. Sie war am Leben geblieben. Die Eltern hatten, warum auch immer, sie nicht abgetrieben, wiewohl sie sie geistig sehr wohl abgetrieben hatten. Irgendetwas war dazwischengekommen, Julia wußte nicht genau, was es war. Jedenfalls dieses Etwas hatte ihr das Leben gerettet.

Doch die Wunde der Nichtgewolltseins war weiterhin da. Und diese Wunde war wie ein Loch, wie eine Amputation. Und mit diesem schrecklichen Loch ging Julia ins Leben. Und wurde ein Mädchen, und wurde eine junge Frau. Und dann tauchten die Burschen auf und die jungen Männer. Und Julia hatte, wie man so sagt, ihre Beziehungen. Und in jeder neuen Beziehung versuchte Julia, dieses schreckliche Loch in sich endlich zu schließen.

Ihr war alles recht. Für eine Umarmung war ihr kein Preis zu hoch. Sie ging so weit, daß sie sich wieder und wieder ausnutzen ließ, denn die Umarmung, so ihr verzweifelter stummer Schrei, würde endlich den furchtbaren Schmerz in ihr zum Schweigen bringen. In der Umarmung würde sie endlich wissen, daß sie lebens- und liebenswert ist. Daß sie ein Recht auf Leben hat.

Ich schaute sie an und dachte: So viele Jahre als vergebliche Versuche, eine Wunde zu heilen, die ein Abgrund ist.

Ich sagte ihr schließlich, was ich dachte. Sie erwiderte darauf nichts. Sie schwieg. Lange. Dann traten Tränen in ihre Augen.


Grafik: Photo by Aliyah Jamous on Unsplash