Samstag, 21. September 2019

Die grünen Auen, die Todesschatten und das Haus des Herrn


Eine Umfrage würde wahrscheinlich ergeben, daß der Psalm 23 (Vulgata 22) zu den beliebtesten Gebeten der Kirchgänger zählt.

Der Herr ist mein Hirte. Und nicht nur das. Er führt mich zu den grünen, saftigen Wiesen, Er schenkt mir Ruhe, Er erquickt mich, Er deckt mir den Tisch.

Wunderbar. Was will man mehr.

Aber vielleicht ergeht es uns so, wie es einstens Card. Newman (der heuer am 13. Oktober heiliggesprochen wird) seinen Zeitgenossen diagnostizierte, mehr als einhundert Jahre vor unserer Zeit:

»Was ist jetzt die Religion der Welt? Sie hat die lichtere Seite des Evangeliums aufgegriffen, seine Botschaft des Trostes, seine Gebote der Liebe; alle dunkleren, tieferen Ansichten von der Lage des Menschen und seinen Aussichten sind vergleichsweise vergessen. Das ist die einem zivilisierten Zeitalter natürliche Religion, und geschickt hat Satan sie aufgezogen und vollendet zu einem Trugbild der Wahrheit.«

Wir wollen das Sanfte, das Liebliche, das durch und durch Konfliktfreie. Und weil wir so erpicht sind auf die grünen Augen, die kein Wässerchen trüben darf, radieren wir aus, was dem Lieblichen in die Quere kommt.

Da macht uns nun gerade der idyllische Psalm 23 einen Strich durch die Rechnung. Denn in ihm plätschern nicht nur die Wasser der Erquickung, in ihm werden auch die dunkleren, tieferen Ansichten der Lage des Menschen zur Sprache gebracht.

Denn in der Mitte dieses großen Gebetes drohen schlagartig die Schatten des Todes (so die kräftigere Fassung der Vulgata: in medio umbrae mortis). Und die friedliche Atmosphäre ist eine offensichtlich bedrohte, denn sie ist den Feinden abgerungen, denen, die den Beter bedrängen.

Fatal wäre es, wenn diese dunklen Seiten des Psalms unterschlagen oder routinemäßig überlesen und vergessen würden. Das hieße aus dem Gebet eine billige Vertröstung machen. Die Heilige Schrift jedoch – wie könnte es auch anders sein – entzieht sich jedem Trugbild der Wahrheit.

Es stimmt schon: Der Herr ist mein Hirte. Und es gibt die grünen Auen. Und der Herr will uns in die Ewigkeit führen, in das Haus des Herrn. Doch der Gang in dieses Haus ist ein mit Mühen und Kämpfen beladener. Auch die Züchtigung, die uns überhaupt nicht schmeckt, wird es auf diesem Gang geben, denn der Stab des Hirten ist nicht nur der wegweisende Halt, auch nicht nur die Waffe gegen die Wölfe, sondern bei Bedarf das Mittel, um uns, die Irregehenden, zu züchtigen und auf den rechten Weg zurückzubringen.

Wer dies bejaht, der hat es gut. Der ist umgeben von der Süße der Verheißung.

Denn auch dies gehört zur Größe dieses Gebetes: Die Todesschatten dräuen nicht zu Beginn, sondern sind eingebettet in den strahlenden Anfang und das aufatmende Ende. Der Beter, der bejaht, braucht keine Angst zu haben. Er ist tatsächlich geborgen. Der Sieger ist der Hirte. Dem Schaf obliegt es, die Bedingungen dieses Hirten, der bekanntlich nicht auf einer Wiese, sondern am Kreuz gesiegt hat, anzunehmen.

Grafik: Photo by Adrian Dascal on Unsplash