Freitag, 19. Oktober 2018

Die Kunst und das Heilsame

»Aber abseits wer ist’s?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.«
Mit diesen trüben Worten beginnt die Alt-Rhapsodie von Johannes Brahms, eine Vertonung von Ausschnitten der Goetheschen Harzreise im Winter.

Der Text und auch die Musik lassen keinen Zweifel: Hier ist das Portrait eines durch und durch Verzweifelten, eines im Leben Niedergeschlagenen, eines Schwerkranken. Die Welt, sub specie aeternitatis, als Hinweis der Herrlichkeit gedacht, wird dem Verzweifelten zur Wüste, zur Öde, zum Ort, der letztlich als unbewohnbar gilt. Aus der Fülle der Liebe, so heißt es wenig später, trinkt sich der abseitig Verlierende Menschenhaß, Balsam wird ihm zu Gift.

Die Erfahrung, die Goethe beschreibt, und die, an ihn anknüpfend, Brahms vertont, ist eine, die den Menschen heimsucht. Es mag sein, daß jemand dieser Heimsuchung in extremis ausgesetzt ist, während ein anderer nur schwache Ausläufer der Gefährdung erlebt. Aber die grundlegende Herausforderung, nämlich die der Auseinandersetzung zwischen dem Abgründigen und das heißt dem nach Unten Ziehenden und dem jedem Leben eingeschriebenen Drang zu leben und also den Blick zu heben ins Offene (Hölderlin: »Komm! Ins Offene, Freund!«), ist einem jeden Menschen aufgegeben.

Und sowohl Goethe wie auch Brahms wissen, aus eigenem biographischen Erleben, um diesen entscheidenden Kampf, und beide wissen zudem, daß der Kunst, die den Namen Kunst verdient, bei aller Durchdringung des Dunklen, letztlich aufgegeben ist, sich durchzuringen zum Hellen.

Darum beläßt es Brahms nicht bei der Düsternis der Schilderung des Wundwaiden, sondern er fragt: »Ach, wer heilet die Schmerzen?« Und die Musik des Norddeutschen geht nicht über die Verzweiflung des Getroffenen hinweg, sondern geht verständnisvoll dessen Schritte mit, um ihn jedoch schließlich der größeren Frage anheimzugeben, die den Blick des Kranken, der sich verkrampft in die ungenügende Selbstsucht, zu weiten ins einzig Notwendende: »Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich?«.

Und dieser Ton, den gibt es. Denn Brahms läßt diesen Ton vernehmen. Im unaufdringlichen, doch um so herzergreifenderen Übergang zum trostvollen C-Dur macht der große Künstler Brahms nicht nur dem Niedergeschlagenen der Rhapsodie, sondern im Grunde jedem Niedergeschlagenen hörbar, daß es die Öffnung gibt, die Quelle, die Liebe, die Erquickung – und dies nicht irgendwo oder in einem fernen Utopia, sondern hier, mitten in der Wüste:
»Ist auf deinem Psalter,
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste!«
(Der Wechsel hin zum Trost ab Minute 9.40)