Die Liebe
Bereits während seines Studiums hatte er die unsäglichen Reduktionen einer Wissenschaft erlebt, die sich dünkte, das neue, allumfassende Erklärungsmodell der Welt zu sein. Häckels antihumanes biogenetisches Grundgesetz war in aller Munde. Feuerbachs vernichtende Kritik am Christentum erreichte die Hörsäle. Darwins Abstammungslehre mutierte zur neuen Religion. Wissenschaft, so das mehr und mehr um sich greifende Dogma, hatte positivistisch zu sein, naturalistisch, materialistisch – so oder so ähnlich hießen die Schlagwörter. Davon hatte sich Moscati nie beeindrucken, geschweige denn anstecken lassen. Sein Glaube war der Glaube seiner Väter: Stark, erdverbunden, fest verwurzelt, demütig-einfach. Und dieser Glaube war kein Widerspruch zu seiner eifrig betriebenen Forschung, sondern erhellte und überwölbte das wissenschaftliche Erkannte, so daß es ein intelligentes Ganzes wurde. Nicht die pompöse Parole war Moscatis Motto, sondern die unauffällige Mystik der alltäglichen, treuen Tat, die die Hierarchie der Werte kennt: »Nicht die Wissenschaft, sondern die Liebe hat die Welt verändert«, schrieb er einem seiner Studenten, und diese Liebe vermöge jeder zu leben.
Zu dieser gelebten Mystik gehört gleichfalls das geduldige Ertragen von Kollegenneid, von Verunglimpfungen und Verleumdungen. Er ist bekannt dafür, daß er unfaire Stellenbesetzungen freimütig ablehnt, ebenso die Postenschieberei gemäß Beziehungen und gesellschaftlichem Einfluß.
Mit 42 Jahren, im Oktober 1922, als ihn körperliche Schmerzen und die Opposition eines Kollegen, den er unterstützt hatte, besonders heimsuchen, gibt er sich selbst die Weisung: »Liebe die Wahrheit; zeige dich, wie du bist, ohne Verstellung, ohne Angst und ohne Rücksicht. Und wenn dich die Wahrheit Verfolgung kostet, so nimm sie an; und wenn es eine Qual ist, ertrag sie! Und wenn du für die Wahrheit dich selbst und dein Leben opfern müßtest, sei stark im Leid.«
Mit dieser Haltung des aufrechten Ganges geht Hand in Hand der gerade, weite Blick. Kunst interessiert ihn, ebenso Architektur und die klassische Antike. 1923, während der Sommerzeit, reist er nach Paris und London. In der englischen Hauptstadt besucht er die National Gallery und ist, wie er später notieren wird, begeistert von den großen italienischen und flämischen Malern - da Vinci, Rubens, van Dyck. Aber auch ein Zeitgenosse, der große amerikanische Portraitist John Singer Sargent, findet seine Bewunderung.
In den, nach Moscatis Tod, gesammelten Berichten und Zeugnissen fällt eines auf: Gleich ob Patient, Professor, Kollege, Student, Freund, sämtliche Gefährten auf dem Wege sind berührt von der ausstrahlenden Güte des bescheidenen Arztes. Diese ist offensichtlich keine aufgesetzte Pose, sondern der Habitus desjenigen, der in seinem Tagebuch festhält: »Deine Liebe, Herr, lenkt mich hin zu den Menschen und zur Schönheit alles Geschaffenen, zu Deinem Abbild und Gleichnis.«
Grafik: Kapelle zu Ehren des Heiligen in Neapel. Mit Dank an: sacerdos-viennensis.blogspot.com