Teil I
In Neapel findet in der medizinisch-chirurgischen Akademie eine Konferenz statt, auf welcher der bekannte Psychiatrieprofessor, Gehirnforscher und ehemalige Bildungsminister Leonardo Bianchi spricht. Bianchi gehört zu den Wissenschaftlern, die streng positivistisch vorgehen. Sein Hauptwerk ist die Meccanica del cervello (Die Mechanik des Gehirns). Der Mensch gilt gleichsam als eine Art Maschine, die analysiert und erforscht wird. Die Frage nach der Geschöpflichkeit des Menschen, gar die Frage danach, ob der Mensch als das der Transzendenz fähige Wesen (Augustinus sprach davon, daß der Mensch capax Dei sei und also gottfähig) nicht mehr ist als seine biologisch meßbaren Funktionen, diese Frage wird bewußt ausgeklammert.
Als der berühmte Redner, der umgeben ist von Professoren, Ärzten, Studenten, schließlich aufsteht, passiert das Unvorhergesehene: Professor Bianchi bricht zusammen.
Und ein weiteres Unvorhergesehenes geschieht. Es ist offensichtlich, daß die Augen des Sterbenden jemanden aus dem Auditorium suchen. Dieser Jemand ist der Arzt Giuseppe Moscati, der den stummen, flehentlichen Anruf des Sterbenden schlagartig erfaßt. Er geht zu dem tödlich Getroffenen und kniet an dessen Seite nieder. Bianchi umklammert die Hand Moscatis. Es ist sehr still im Raum, als Moscati die Order erteilt: »Ruft einen Priester!«
Und dann betet Moscati im Angesicht des Sterbenden laut die katholischen Reuegebete, die der am Boden Liegende stammelnd nachspricht.
Moscati, der nur knapp zwei Monate später selbst an seinem letzten Tag ankommen wird, schreibt wenige Tage nach dem Tod Bianchis an dessen Nichte, eine Ordensschwester, einen Kondolenzbrief. Darin heißt es: »An Ihrem Onkel hat sich bewahrheitet, was die Parabel des Evangeliums sagt: Die zur elften Stunde kommen, werden den gleichen Lohn empfangen, wie die zur ersten Stunde Gerufenen. Ich spüre noch immer den Blick, der mich dort unter den vielen Menschen suchte. Leonardo Bianchi wußte um meine religiöse Einstellung, denn er kannte mich seit meiner Studentenzeit. Ich ging zu ihm hin und betete ihm die Worte der vertrauenden Reue vor, während er meine Hand hielt, kaum noch fähig zu sprechen.«
Diese Zeilen Moscatis sind um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, was der Briefschreiber zusätzlich notiert: »Ich wollte nicht zu jener Konferenz gehen, da ich mich schon eine Zeitlang von der Universität ferngehalten hatte. Aber an jenem Tag drängte mich eine übernatürliche Macht dorthin, der ich nicht zu widerstehen vermochte.«
In dieser kurzen Episode aus dem Leben des heiligen Arztes Giuseppe Moscati läßt sich wie in einem Brennpunkt bündeln, was Moscati auszeichnet. Hier ist ein Mensch, der als Arzt sich zeit seines Lebens um das leibliche Wohl seiner Patienten sorgt, der aber darüber nie vergißt, daß die Seele derselben Patienten gleichfalls ihre Rechte beansprucht, denn diese Seele ist kein Konstrukt obsoleter Theologen, sondern Realität, ja die Wirkmacht, die den Leib, den gesunden wie den kranken, formt und zusammenhält.
Darum wird Moscati nicht müde, seinen Studenten oder seinen Kollegen das Wesentliche in stets neuen Anläufen zu vermitteln. Er spielt nicht den medizinischen Beruf gegen die Seelsorge aus. Was er tut, ist, die Gewichte recht zu justieren: »Wir Ärzte, die wir oftmals nicht in der Lage sind, die Krankheit zu beheben, sind gesegnet; wir sind gesegnet, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß wir in der Gegenwart kranker Menschen nicht bloß Leiber kurieren, sondern ebenso göttliche und ewige Seelen, und wir müssen sie lieben wie uns selbst.«
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