Samstag, 13. Februar 2021

Hildegard von Bingen – Die Prophetin

II.

Es ist ein Ereignis im Leben der deutschen Prophetin, welches für immer ihre Lebensbahn bewegt. Sie selbst hat darüber berichtet, und es ist wesentlich, ihrem feierlichen Bekennnis, durch welches die einmalige Erschütterung durchtönt, zuzuhören, will man alles Weitere verstehen. Hildegard schreibt:

»Es geschah im Jahre 1141 nach der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus, als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war. Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. Es verbrannte nicht, aber es war heiß, wie die Sonne einen Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen. Und plötzlich verstand ich die Bedeutung der Schriftauslegung, nämlich des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bände des Alten und auch des Neuen Testaments (…).
Da sah ich plötzlich einen überhellen Glanz, aus dem mir eine Stimme vom Himmel zurief: Du hinfälliger Mensch, du Asche, du Fäulnis von Fäulnis, sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Doch weil du furchtsam bist zum Reden, in deiner Einfalt die Offenbarung nicht auslegen kannst, und zu ungelehrt bist zum Schreiben, rede und schreibe darüber nicht nach Menschenart, nicht aus verstandesmäßiger menschlicher Erfindung heraus, oder in eigenwilliger menschlicher Gestaltung, sondern so, wie du es in himmlischen Wirklichkeiten in den Wundertaten Gottes siehst und hörst.«
                 
Die Gabe der Schau begleitet Hildegard seit Kindheitsjahren. In ihrer frühen Vita heißt es bereits im ersten Kapitel, »daß sie geheime Gesichte hatte, die sie in einer außergewöhnlichen Gabe des Schauens wahrnahm, ohne daß andere den Anblick teilten«.

Doch nun, im Alter von 42 Jahren, geschieht Neues. Hildegard wird zur Prophetin. Und die Prophetin spricht nicht in die stille Kammer hinein, sondern in die Öffentlichkeit. Mit ihrer Schrift Scivias (eine Abkürzung von Liber sci vias Domini, Wisse die Wege des Herrn), ihrem ersten großen Werk, beginnt die ins Abendland ausstrahlende Bedeutung der Seherin Hildegard. Das ist keine Übertreibung. An den hochrangigen Adressaten ihrer Briefe, den damals Mächtigen in Kirche und Staat, kann man ablesen, wie weit der Radius ihrer Bekanntheit und ihres Einflusses reicht. Päpste, Herrscher, Kaiser Friedrich Barbarossa, Landesfürsten, bedeutende Äbte und Kleriker suchen ihren Rat und ihre Weisung. Die Äbtissin vom Rupertsberg wird im 12. Jahrhundert zu einer Gestalt, die wortwörtlich Geschichte schreibt.

Der Eintritt ins öffentliche Leben, der ihr schließlich den Ruf der deutschen Prophetin einbringt, ist dabei, wie könnte es anders ein, ein umkämpfter. Hildegard scheut sich - »aus weiblicher Scheu, aus Fucht vor dem Gerede der Leute und dem verwegenen Urteil der Leute« (Vita) -  den gewaltigen, von Gott verfügten Auftrag, auszuführen. Doch jedes Mal, wenn sie zögert, dem Befehl nachzugeben, wird sie krank und bettlägerig. Ihre Bewegungen stehen still. Sie ist gelähmt. Erst das volle Ja und das Einverständnis in ihren Auftrag, der zugleich Lust und Last ist, beleben ihre Kräfte aufs Neue.

Lust und Last:  Die Gesichte der Herrlichkeit, die ihr gewährt werden, sind von strahlender Schönheit. Eine Welt der himmlischen Fügung und Harmonie und Wohlgeordnetheit eröffnet sich ihren Sinnen und ihrem Geist. Sie schaut die Wunder der Schöpfung, und »solange ich es schaue, ist alle Traurigkeit von mir genommen, so daß ich mich wie ein junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau.«

Doch sie sieht auch dies: Die Gewalttätigkeiten gegenüber dem guten Schöpfungsplan, die Verkehrheiten des Geschöpfes, die Sünden der Menschen.

Und der Prophetin ist aufgetragen, das ganze Gesicht mitzuteilen. Sie hat die zu sein, die Werkzeug ist, Kanal der Gnade, ohne dem Geschauten eigene Abstriche oder sinnentstellende Erfindungen anzutun. »Und ich sprach und schrieb nichts aus eigener Erfindung oder irgend eines Menschen, sondern wie ich es in himmlischer Eingebung sah und hörte und durch die verborgenen Geheimnisse Gottes empfing.« Der göttliche Auftraggeber nimmt sie in die Pflicht, und diese Pflicht gestattet weder Eingenmächtigkeiten noch Selbstgefälligkeiten. Sie hat aufzuschreiben und zu sprechen: »sage und schreibe«.