Samstag, 20. Juni 2020

Der Verzicht



»Um irgendwen in Empörung zu versetzen, genügt es heutzutage, ihm vorzuschlagen, er solle auf etwas verzichten.«

So ein Diktum des kolumbianischen Reaktionärs Nicolás Gómez Dávila.

Wenn Dávila Recht hat, dann heißt dies, daß der moderne Zeitgenosse Kunst nicht länger versteht. Denn die Kunst, die den Namen Kunst verdient, thematisiert immer wieder genau das: Den Verzicht, das Opfer.

Nehmen wir ein populäres Beispiel: La Traviata.

Violetta, die Pariser Halbweltkurtisane, begegnet Alfredo, und das Unerhörte geschieht. Violetta lernt die Liebe kennen, die echte, die tatsächliche.

Der Vater Alfredos ist schockiert. Violettas Liaison mit dem Sprößling der Familie Germont kompromittiert die ganze Familie, zumal die bevorstehende Ehe der Tochter der Familie steht aufgrund des stadtbekannten Skandals vor dem Aus. Und Vater Germont überzeugt Violetta, das Opfer zu bringen, sprich Alfredo zu verlassen, auf ihre Liebe zu verzichten.

Das Duett zwischen Violetta und Germont gehört zu den ergreifendsten Szenen der gesamten Oper. Verdi macht die Größe des Opfers hörbar, und er zeigt zudem, daß dann, wenn zwei Menschen von sacrifizio reden, bei weiten nicht dasselbe gemeint ist. Violetta bringt das Opfer, und sie ist es, die den Preis bezahlt. Germont fordert das Opfer und riskiert nichts, denn er bewegt sich, bei allem Beeindrucktsein von Violettas Größe, lediglich im Rahmen der kalten Konvention.

Hätte es diesen Schwiegervater in spe nur nicht gegeben, mag einer erwidern, und alles wäre anders gekommen. Tja, nur es gibt diesen Schwiegervater, und selbst wenn es ihn nicht gäbe, dann würde die Handlung gleichwohl auf den Verzicht drängen. In Rigoletto (um bei Verdi zu bleiben) fehlt der Schwiegervater, von einer bösen Schwiegermutter ganz zu schweigen; dennoch opfert sich Gilda für den betrügerischen Herzog. Und in Aida gibt die Titelheldin aus freien Stücken ihr Leben hin und stirbt mit ihrem geliebten Radames im tristen Loch.

Nichts Neues unter der Sonne, schon bei den alten Griechen wurde tragisch gestorben. So der Einwand eines anderen. Doch auch dieser Einwand geht ins Leere. Denn  der Unterschied der Kunst nach Christus ist gerade der, daß die Tragik aufgebrochen wird. Die Violettas und Gildas, und wie sie alle heißen mögen, gehen nicht zugrunde an der undurchdringlichen Mauer eines grausamen Fatums, sondern sie sterben aus freiem Entschluß. Ihre Freiheit ist im Opfer nicht aufgehoben, sondern aktuiert sich im Opfer auf das herrlichste.

Und warum überhaupt das Opfer? Warum überhaupt verzichten?

Weil im Verzicht der Mensch im Ernstfall ist. Redet er schöne Worte oder lebt er die schönen Worte? Das Opfer tötet radikal den Egoismus, der seit dem Sündenfall in jedem Menschenherzen lauert. Egoismus und Liebe sind unvereinbar. Da Violetta liebt, verzichtet sie. Eine Welt ohne Verzicht wäre gleichbedeutend mit einer Welt ohne Erbsünde.

Damit hängt zusammen, daß Verdi seiner Heroine den himmlischen Schluß gewährt. Eine Mauer ist eine Mauer, da gibt es kein Mitleid. Violetta dagegen stirbt unter ätherischen Klängen. Der Himmel öffnet sich - nel ciel tra gli angeli prega -, denn der Himmel weiß um das Opfer und krönt es, schließlich hat jedes Opfer seinen Ursprung und seine Dignität (sei es gewußt, sei es nicht gewußt) im einzigen Opfer - dem des Sohnes.