Große Werke, so meinen wohl etliche, bedürfen zu ihrer Entstehung optimaler Bedingungen. Und dann imaginiert die Phantasie die idyllischen, angeblich notwendigen Bedingungen. Vielleicht ein netter abgelegener Ort – am besten ein Kurort, warum nicht Aflenz - , ein schmuckes Häuschen inklusive, ein schattiger Apfelbaum zum Luftholen, eine Studierstube mit den angemessenen Annehmlichkeiten und die güldene Feder zum Notieren der Inspirationen.
Die Wirklichkeit ist freilich eine andere. Eine ganz andere. (Es sei denn, man ist Thomas Mann mit seinen obligaten Villen).
Anton Bruckner zum Beispiel.
Sein Leben ist gut dokumentiert. Würde die bourgeoise Illusion recht behalten, dann dürfte dem österreichischen Komponisten nichts gelungen sein, da seine Biographie der bürgerlichen Idylle gänzlich zuwiderläuft.
Gehässigkeiten, Scheitern, Unbilden, Überlastung, Kabalen, Neid, Intrigen reihen sich in seiner Vita. Für die snobistische Wiener Schickeria, die sich notorisch für etwas Besseres hält, war der tumbe Tor aus Oberösterreich das gefundene Fressen. Anekdoten zirkulierten, die dessen ungeschlachtes Naturell karikierten. Seine Devotheit und sein bäurisches Äußeres wurden landauf landab ins Lächerliche gezogen, seine katholische Frömmigkeit mitleidig belächelt.
Der damalige tonangebende Wiener Musikkritiker ließ in der reifen Schaffensphase des Komponisten keine Gelegenheit vorübergehen, um den überragenden Tonsetzer niederzumachen. Musikkollegen, die es hätten besser wissen müssen, etwa Brahms, mokierten sich gleichfalls über das Genie, welches ein Trottel war. Die dritte Symphonie wurde ein kompletter Reinfall. Die Wiener Philharmoniker streikten. Das Publikum lief davon. Die siebte Symphonie, die Bruckner schließlich die Anerkennung verschaffte, die ihm, hätte man die Ohren aufgetan und die Häme ad acta gelegt, längst gebührte, wurde – was mehr sagt als tausend Worte - nicht in seinem Wohnort Wien uraufgeführt, sondern in Leipzig.
Selbst die nahestehenden Freunde verstanden oft genug nicht die Größe dessen, der neben ihnen im Wirtshaus saß. Darum erdreisteten sich wohlmeinende Musikanten, in die Werke des Genies hineinzupfuschen. Instrumentationen wurden willkürlich geändert, Retuschen und Streichungen vorgenommen und dem Komponisten Änderungen dringendst nahegelegt.
Wen wundert‘s, daß bei all den unverschämten Widrigkeiten, mit denen man dem Komponisten zusetzte, der Komponist selbst an Nervenkrisen, Grübeleien und der Zählkrankheit litt.
Und doch. Und doch.
Eben dieser Anton Bruckner, der Zermürbte und Gequälte und Geprügelte, schreibt die herrliche dritte Symphonie und die herrliche vierte Symphonie und die unfaßbare fünfte Symphonie und die strahlende Sechste und die himmlisch fließende Siebente und die monumentale Achte und die einsam aufragende neunte Symphonie.
Wer Bruckner entdeckt, hat einen Schatz für‘s Leben entdeckt. Eine Insel ist zum Aushalten, wenn im Koffer die Werke Bruckners dabei sind. Celibidache, einer der großen Brucknerdirigenten, meinte: »Daß es Bruckner gegeben hat, ist für mich das größte Geschenk Gottes.« Das ist naturgemäß eine Übertreibung, aber Liebhaber dürfen das.
Die letzte Ruhe fand Anton Bruckner nicht in Wien, sondern im Linzer Stift St. Florian. Dort, unterhalb der Orgel, steht sein Sarkophag. Und eingraviert in den Sockel des Sarkophags findet sich die Schlußzeile des Te Deum als Inschrift: Non confundar in aeternum (In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden).
Da Bruckner seine letzte Symphonie nicht beenden konnte, verfügte er, daß das Te Deum gleichsam als vierter Satz im Anschluß an die Neunte, die bezeichnenderweise Dem Lieben Gott gewidmet ist, zur Aufführung zu bringen sei.
Die letzte Symphonie und das Te Deum: Während jene im pianissimo verhauchend ausklingt, jubelt dieses fortissimo in finaler Gewißheit. Beides ist Bruckner: Die grenzenlose Kleinheit und der majestätische Gipfel. Denn Bruckners Musik der Sehnsucht schafft das Unmögliche, das, was den Großen gegeben ist, und was etwa die Grabinschrift des heiligen Ignatius von Loyola zum Ausdruck bringt: Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est (in der Übersetzung Hugo Rahners: Nicht begrenzt werden vom Größten und dennoch einbeschlossen sein vom Geringsten, das ist göttlich).