Ein jeder, der einmal in der Sixtinischen Kapelle gewesen ist, wird den bleibenden Eindruck des Jüngsten Gerichts mitnehmen. Michelangelo hat das monumentale Fresko an die Stirnseite der Kapelle plaziert, hinter den Altar.
Christus, in der Glorie, erscheint zum Letzten Gericht. Mit Ihm die Muttergottes und die Heiligen. Es ist die Zeit der letzten Enthüllung, die Zeit der unwiderruflichen Offenbarung. Zur Rechten Christi (von Ihm aus gesehen) sind die Seligen, die gen Himmel auferstehen. Zur Linken Christi stürzen die Verdammten in die Hölle.
Unterhalb des Weltenrichters ist eine Gruppe von Engeln zu sehen, die mit Posaunenstößen zu diesem Letzten Gericht blasen.
Michelangelo inszeniert hier nicht seine privaten Vorlieben, sondern er hält sich an das letzte Buch der Heiligen Schrift, die Apokalypse, wo eben dies geschrieben steht, daß nämlich »die sieben Engel, die vor Gott standen (…) sich bereit machten, die sieben Posaunen zu blasen (8,2.6)«.
Und Michelangelo bringt ebenso ins Bild, was in seiner Detailgetreue schockierend ist und vielleicht vielen entgeht. Denn zu den Engeln mit ihren erschütternden Instrumenten gesellen sich zwei weitere, die jeweils ein Buch in den Händen halten.
Bücher? Ja, Bücher.
Auch hier ist Michelangelo durch und durch bibelfest. Denn in der Offenbarung des Johannes heißt es: »(…) und Bücher wurden aufgeschlagen; auch das Buch des Lebens wurde aufgeschlagen. Die Toten wurden nach ihren Werken gerichtet, nach dem, was in den Büchern aufgeschrieben war« (20,12).
Michelangelo faßt nun diese Bücher in zwei Exemplare: In das Buch des Lebens, welches den Seligen zur Rechten Christi, und in das Buch des Todes, welches den Verdammten zur Linken Christi hingehalten wird.
Dies ist bereits in seiner nackten Unwiderlegbarkeit schockierend genug. Doch weitaus schockierender ist ein Weiteres.
Michelangelo nimmt die Worte Christi vollkommen ernst, er schwächt die Verkündigung des Weltenrichters, der in seinem Erdenleben davon sprach, daß der Weg ins Verderben breit ist und viele auf ihm gehen, während der Weg ins Leben eng ist und nur von wenigen gefunden wird (s. Matthäus-Evangelium 7,13f), nicht ab, sondern er zeigt die Härte der christlichen Verkündigung in aller Härte seiner Kunst. Das Buch des Lebens, so Michelangelo, ist ein kleines Buch, das Buch des Todes, in dem die Vielen verzeichnet sind, die den breiten Weg des Verderbens wählten, ist dagegen ein deutlich größeres Buch.
Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Michelangelo malt nicht ein Buch, er malt auch keine zwei gleich großen Bücher oder ein winziges Buch des Todes. Nein, Michelangelo malt das Unausweichliche, er malt die Proportionen der Wahrheit: Das Buch des Lebens ist kostbar und weitaus kleiner als das entsetzliche Buch des Todes.
Von der modernen Verkündigung oder vielmehr Verniedlichung einer billigen Gnade, die unterschiedslos alle Erdenbürger in den Himmel expediert, ist Michelangelo meilenweit entfernt. Wer um den Ernst des Lebens wissen will, der ist gut beraten, sich der heilsamen Schonungslosigkeit dieses Großen, den seine Zeitgenossen nicht umsonst als den göttlichen Michelangelo rühmten, auszusetzen.
Grafiken: Michelangelo, Jüngstes Gericht. Gesamtansicht und Ausschnitt. wiki.commons