Freitag, 21. Juni 2019

Die Welt von heute


Wenn eine Nation zerbricht, dann geschieht dies nicht von ungefähr. Das Zerbrechen hat seine Ursachen. Und die ersten Ursachen sind nicht die politischen oder ökonomischen, sondern die moralischen. Wenn eine Nation sittlich verlottert und also den Blick für das Wesentliche verliert, dann ist ihr Untergang nur mehr eine Frage der Zeit.

In seinem posthum erschienenen autobiographischen Werk Die Welt von gestern notiert Stefan Zweig (1881-1942):

»Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blaß und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete (gemeint ist eine Geschlechtserkrankung, vor allem Syphilis), der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen (auch hier ist auf die Geschlechtskrankheit angespielt), der vierte, weil er nicht wußte, wie die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen worden war und er nicht wagte, die Anzeige zu machen.«

Zweigs Erinnerungsbuch widmet sich zumal Wien und der k. u. k. Zeit. Die Pseudomoral sieht er partout, zieht freilich aus dem Befund das fatale Fazit, als sei es im Grunde damit getan, das Pseudo zu streichen, um solcherart zur Genesung fortzuschreiten, so als wäre die Urgewalt des Eros mühelos zu bewältigen, wenn man ihn nur frei und ungezwungen, mit einem Wort humanistisch walten läßt.

Joseph Roth, Zeitgenosse Zweigs, kann einen eines Besseren belehren, gleich, ob man sich den Radetzkymarsch oder Die Kapuzinergruft zu Gemüte führt. Roths Helden sind allesamt humanistisch Gebildete. Aber was sagt das schon, wenn ihr Humanismus gleichsam leere Staffage ist, die – so am Ende des Radetzkymarsches – den jungen Trotta dahin bringt, daß er am Grab eines Gefallenen nicht einmal mehr das Vaterunser als letzte Zuwendung zuwege bringt?

Eine Zeit, die sich ihrer humanistischen Attitüde rühmt, ist kein Bollwerk gegen gleich welche Verführung, geschweige denn vermag sie der sittlichen Verwahrlosung zu wehren. Die Tage einer solchen Zeit sind gezählt und zu leicht befunden. Wenn Zweig, erwachsen geworden, im selben Erinnerungsbuch die jungen Menschen, die er nun erlebt, als »antikisch frei« verklärt, fern jeder Verklemmung, so als hätten diese jungen Menschen endlich die Bürde der Pseudomoral abgeschüttelt, dann ist dies bestenfalls eine Sottise.

Er hätte dazu nur die Geschichte einer österreichischen berühmten Familie studieren brauchen, um zu sehen, wie brüchig der hochgerühmte Humanismus und die ebenso hochgerühmte Kultur sind, wenn Allzumenschliches als Herausforderung auf einen zukommt.

In der Familie Wittgenstein, einer der reichen und angesehensten Familien der k. u. k. Zeit wie der darauffolgenden Jahrzehnte, geschieht 1931 und also bereits nach dem Zusammenbruch der Monarchie und ihrer von Zweig konstatierten Pseudomoral folgendes Hausdrama:

Der berühmte Pianist Paul Wittgenstein hat eine seiner Schülerinnen, die einundzwanzigjährige Bassia, geschwängert. Was tun? Das Normalste wäre, dazu zu stehen, zumal die finanziellen Mittel der überaus vermögenden Familie mehr als ausreichend sind, um die junge Frau zu unterstützen.

Aber es kommt anders. Die Schwester Pauls, Gretl, die berühmte Margaret Wittgenstein-Stonborough (von Klimt porträtiert), organisiert, gegen den Willen der jungen Mutter, die eigentlich das Kind behalten will, eine Abtreibung. Das Problem wird damit, wie man so sagt, aus der Welt geschafft. Später wird die junge Frau Gretl beschuldigen, sie zur Abtreibung gezwungen zu haben, und etwa ein Jahr nach der Abtreibung ist die junge Frau tot, gestorben an einem nach der verpfuschten Abtreibung aufgetretenen Krebs.

1931. Man weiß, wie es historisch weiterging. Ist es so erstaunlich, daß eine Nation, in der diejenigen, die kultiviert und bestens sozialisiert sind, die in der Gesellschaft Einfluß haben und als Leitbilder angesehen werden, gleichwohl rücksichtslos ein alltägliches Verbrechen begehen – denn das ist die Abtreibung – , daß eine solche Nation nicht bestehen kann, es sei denn, sie bekehrt sich?

Wir leben Jahrzehnte später, nicht mehr 1931. Doch wie steht es um das Heute?

Der Biograph der Familie Wittgenstein, Alexander Waugh, ebenfalls bestens ausgebildet, zudem Enkel des weltberühmten Schriftstellers Evelyn Waugh, schreibt ausführlich über dieses Abtreibungsgeschehen und die Folgen. Gretl, die Hauptakteurin der Tragödie, nennt er: »Gretl, mit ihrem großen Herzen (…).« Dazu erübrigt sich jedes weitere Wort.

Doch damit sind wir exakt im Heute, in unserer verwahrlosten Zeit, die sich nicht schämt, über besagte Gretl, eine Frau, die 1931 Horror in das Leben Etlicher gebracht hat, diesbezüglich zu notieren (so der Biograph): »Obwohl sie so viel getan hatte, um zu helfen (…).« Helfen? Ist das der Tiefpunkt der humanistischen Mimikry?

Grafik: Rainer Sturm / pixelio.de