Freitag, 9. Februar 2018

Die Liebe, die wartet


Nehmen wir drei Meisterwerke.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Lew Tolstoi: Krieg und Frieden.

Was verbindet diese drei Meisterwerke?

Da es Meisterwerke sind, handeln sie, wie könnte es anders sein, von der Liebe. Denn die Liebe ist immer wieder und stets aufs Neue das herausragende Thema in den großen Werken der Weltliteratur. Und da stellt man nun fest, daß die Werke, die das Prädikat groß verdienen, die Liebe einmütig unter ein sehr konkretes Vorzeichen stellen, und das lautet: Die Liebe wartet.

Wie bitte? Warten?

Der moderne Zeitgenosse traut seinen Ohren nicht. Schließlich wird ihm genau das Gegenteil eingeredet. Alles muß schnell gehen. Nach dem ersten flüchtigen Kennenlernen kommt es sogleich zum Akt. Von Warten keine Spur. Der Wartende wird vielmehr als der Dumme dargestellt.

Wie meilenweit entfernt von dieser zerstörerischen Kurzsichtigkeit ist die große Kunst. Naturgemäß weiß auch sie um die Verführung zum schnellen Genuß. Sie weiß, daß zumal der junge Mensch sich schwer tut mit dem Warten und der Geduld. Daß die Verlockung der raschen Eroberung fortwährend lauert. Daß das Ungestüme den jungen Aufgewühlten hin und her reißt.

Aber die großen Meisterwerke sind ehrlich. Sie zeigen den rechten Weg. Gleich ob Austen, Stifter oder Tolstoi: Gezeigt wird, daß die Liebe deswegen zu warten hat, weil die Liebe reinigungsbedürftig ist. Die Liebe am Anfang ist bestenfalls Verliebtheit, jedenfalls nicht die Liebe, der es einzig zusteht, den hohen Namen der Liebe für sich beanspruchen zu dürfen. Vorurteile, falsche Sichtweisen, Irrtümer, Verblendungen, Stolz, Ungestümtheit und etliche andere Tücken umlagern denjenigen und diejenige, die sich auf den Weg der Liebe begeben.

Und nur der, der bereit ist, in einem schmerzlichen Prozeß der Reinigung und Reifung sich wandeln zu lassen von seinen selbstsüchtigen Verblendungen, wird schließlich gewürdigt, bei der tatsächlichen Liebe anzukommen.

Elisabeth Bennet, die Lieblingsheldin Austens, hat viel zu lernen. Und ihr zukünftiger Gemahl desgleichen. Ihre zunehmende Annäherung geht Hand in Hand mit einer Selbsterkenntnis, die mehr ist als ein nettes Geplänkel, die vielmehr echtes Hineinführen in die Wahrheit ist, und das heißt oft genug in die bittere Wahrheit, die das Verkehrte und Egoistische im eigenen Verhalten bloßlegt.

Paare, welche das Glück an sich reißen im schnellen, voreiligen Zugriff oder aus verletzter Eigenliebe das Gegebene falsch bewerten, sind nicht zu bewundern, sondern werden als das bezeichnet, was sie in Wirklichkeit sind: töricht. Sie verstehen nicht die Kunst des Lebens und der Liebe.

Der Preis, der für das schnelle, gierige Ansichreißen oder für ein allzu stürmisches Zerschlagen eines liebenden Beginns zu bezahlen ist, ist oft genug schneidend bis ins Mark. Der Nachsommer spricht darüber in verhaltener, stets präsenter Entsagung.

Auch die leidenschaftliche, blutjunge Natascha in Tolstois Werk, ebenso wie ihr Freund Pierre, muß bittere Lektionen lernen, bis sie versteht, daß die Liebe ein Werk ist, ein Kunstwerk, und zu einem Kunstwerk gehört die unsägliche Geduld des Bauens, des Reifens und des rechten Maßes.

Und auch dies verbindet die Meisterwerke: Die wahren Liebenden, dessen sind sich die großen Dichter einig, werden einander finden. Sie erkennen sich untrüglich. Es mag viele Widerstände geben, die zu überwinden sind, viele Mißverständnisse, die den gemeinsamen Weg blockieren, viele Schmerzen, die in die eigene Haut schneiden. Und dennoch. Entscheidend bleibt der Wille der Beginnenden zur Wahrheit. Wo dieser Wille wirkt, werden die Liebenden sich finden, und sei es selbst nach Verlust und langem Abstand.

Elisabeth Bennet und Sir Darcy werden ein glückliches Paar. Freiherr von Risach und Mathilde erleben, wenn auch keine Ehe, so doch die neue Nähe und den rosengeschwängerten, reifen Nachsommer. Und da sie im Leiden wahrhaft gereift sind, vermögen sie die liebevollen Begleiter des jungen Paares Heinrich und Natalie zu sein. Natascha und Pierre schließlich sagen, nach etlichen Abschieden und Bekehrungen, ja.

Warten. Reifen. Lieben. In der Wahrheit. »Denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich« (Kierkegaard).

Grafik:    Von Foto H.-P.Haack, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11628626