Freitag, 10. März 2017

David oder das beschädigte Leben

1504, September. Nach zwei Jahren hartnäckiger, leidenschaftlicher Arbeit ist es soweit. Vor den Augen der staunenden Menge erstrahlt das Kunstwerk, welches, laut einem Zeitgenossen, selbst alle antiken Meisterwerke übertrumpft: Der David des Michelangelo Buonarroti.

Der Künstler ist gerade mal 29 Jahre alt. In Florenz, seiner Heimatstadt, ist er spätestens seit diesem Zeitpunkt eine Berühmtheit. Die über fünf Meter große Statue trägt maßgeblich dazu bei, daß der Name Michelangelo fortan in der Welt der Renaissance einen mächtigen, prachtvollen Klang hat.

Dabei ist das Geschick des David, der in makelloser Schönheit seine souveräne fortezza offenbart, keinesfalls so geradlinig verlaufen, wie man vermuten könnte.

Als Michelangelo den mehrere Tonnen schweren Marmorblock zu bearbeiten beginnt, erhebt sich vor ihm ein beschädigter Stein, an dem bereits zwei Künstler gescheitert sind. Wer will sich an diesem ramponierten Marmor abmühen? Der Stein gilt seit langen Jahren als unbrauchbar, ruiniert, verhauen.

Doch Michelangelo, dem man später den Beinamen der Göttliche geben wird, läßt sich nicht beirren. Er sieht im Stein das zukünftige Meisterwerk. Ja, im Stein verborgen ruht bereits das makellose Bild, welches der Künstler unter seinen Meißelschlägen zum Vorschein bringt. Durch die Wegnahme geschieht die Vollkommenheit, denn der Wegnahme, wie ein Theologe es ausdrückte, folgt die Liebe immer.

Und ist nicht dies ein tiefes Gleichnis für unser aller Leben? Nicht die Tatsache, daß ein Leben beschädigt ist, ist ausschlaggebend. Wesentlich vielmehr ist die Geduld und Beharrlichkeit und Zuversicht des je Einzelnen, den Meißelschlägen des großen göttlichen Bildhauers nicht auszuweichen. Denn in den Augen Gottes zählt das concetto, welches unter noch so vielen entstellenden Schichten tief innen in unserer vita ruht, selbst dann, wenn dieses verborgene Bild nur mehr als verglimmender Docht scheint.

Die Wegnahme schmerzt oft genug, vielleicht heute mehr denn je, da uns doch unablässig eingeredet wird, daß das Zunehmen, in welcher Art auch immer, das Entscheidende sei. Während doch weiterhin das zitternde Ich im Inneren darauf wartet, das Licht der Welt zu erblicken, denn für dieses offenbarende Licht ist es erschaffen.

Wie sagte es ein Künstler unserer Zeit, der mit seinem Flugzeug irgendwann in das Unbekannte aufbrach:
»Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.«   (Antoine de Saint-Exupéry)

Grafik:   Von Jörg Bittner Unna – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=56633987