Die Chaconne
Sie gehört zu den herausragenden und schwierigsten Werken der Literatur für Violine solo: Die Chaconne (Giaccona) von Johann Sebastian Bach, der letzte Satz der Partita Nr. 2 in d-moll.
In der gesamten Geigenliteratur, und auch im Schaffen Bachs selbst, steht das Werk als ein erratischer Block. Es mag, wie viele vermutet haben, mit den außergewöhnlichen Lebensumständen Bachs zusammenhängen, unter denen die Chaconne entstanden ist.
Bach ist für drei Monate auf einer musikalischen Auslandsreise unterwegs. Als er schließlich nach der langen Dienstreise nach Hause zurückkehrt, trifft er den Tod an: Seine Frau Maria Barbara lebt nicht mehr, sie ist vor einer Woche verstorben.
Die Tonart der Chaconne ist d-moll, eine Tonart, die man oft mit dem Tod in Verbindung gebracht hat. Mozarts Requiem ist in dieser Todestonart komponiert, Schuberts Der Tod und das Mädchen steht in d-moll, Bruckners letzte, dem Lieben Gott gewidmete Sinfonie, ist in d-moll. Legt es sich nicht nahe anzunehmen, daß die Chaconne Bachs der musikalische Abschied von seiner Frau ist? Und paßt zu dieser Annahme nicht auch, daß einer der Söhne des Komponisten berichtet, daß sein Vater das Werk oftmals für sich allein gespielt habe, auf seinem Lieblingsinstrument, dem Clavichord?
Verhält es sich nun so, wie diese wenigen Sätze skizzieren, wenn es also gilt, daß die Trauer wie die musikalische Transformation der Trauer (der Weg geht von Moll zu Dur und wieder zurück nach Moll) die Chaconne prägen, dann überrascht es nicht, wenn ein Geiger, der in eminenter Weise um die Trauer weiß, das Werk mit ungeheurer Intensität zu spielen weiß.
Sergey Khachatryan, so der Name des Geigers, ist armenischer Abstammung. In einem im Internet zugänglichen Video ist ein Encore von ihm zu hören, welches vom armenischen Komponisten Komitas stammt, wobei Khachatryan diese Zugabe bewußt der Erinnerung an den Genozid an seinem armenischen Volk während der Jahre 1915/16 widmet. Wer den Schmerz, die Trauer, die unverstellte Sehnsucht hören will, der kann dies in vier Minuten ergreifend hören. Und man versteht zuhörend besser, daß ein Geiger, über seine jeweilige Individualität hinaus, stets auch, in einer geheimnisvollen diachronen Verbundenheit, die alle statischen Grenzen der Zeit überwindet, der Bruder seiner Brüder ist und also der Bruder der Gemarterten.
Früh hat Khachatryan Bachs Partiten eingespielt. Seine Darbringung der Chaconne spricht für sich.
