Sonntag, 27. Oktober 2019
Samstag, 19. Oktober 2019
Die Tatoos
Sie sind nicht zu übersehen, die Tätowierungen. Unter den Vierzigjährigen sind mittlerweile etliche, vielleicht sogar die Mehrzahl, tätowiert. Und wenn es so viele tun, hört man auf zu fragen, warum es so viele sind. Es ist halt eine Mode, oder ein Trend, oder eine Laune. Wozu groß weiter fragen?
In einem früheren Beitrag (hier) haben wir davon geschrieben, daß ein hoher Prozentsatz der heutigen jungen Generation zu den sogenannten Abtreibungsüberlebenden gehört. D.h.: Sie leben und haben zugleich Geschwister, die nicht leben.
Wie das? Die Antwort: Weil ihre Geschwister durch Abtreibung oder Verhütung (Stichwort: Frühabtreibung) das Licht der Welt nicht erblickt haben.
Das ist freilich kein harmloser statistischer Befund, sondern für die betroffenen Überlebenden ein zutiefst verstörender. Denn was ist mehr aus der Lebensbahn werfend, als zu ahnen oder zu wissen, daß man in einer Familie aufwächst oder aufgewachsen ist, in der ein Familienmitglied getötet wurde, während man selbst zum Wunschkind stilisiert wurde und also überleben durfte?
Diese Zusammenhänge berücksichtigend, versteht man besser, warum diese Generation mehr und mehr in die virtuellen Räume flieht. Wer die Wirklichkeit, und das meint hier an allererster Stelle die Familie, als einen Ort der unberechenbaren, lebensgefährlichen Bedrohung erfährt, der wird aus diesem Schrecken verständlicherweise hinaus wollen – er flieht. Und was ist naheliegender, als in das omnipräsente Online-Angebot zu fliehen. Im Internet ist man selbst der Herr. Wenn es zu bedrohlich wird, dann kann man über den Bildschirm wischen oder einen neuen Klick setzen, und schon ist man raus aus der Gefahrenzone und mitten in einer neuen, sterilen virtuellen Welt.
Mit der Wirklichkeit geht dies allerdings nicht. Diese bleibt. Man kann sich nicht herauskatapultieren aus der eigenen Familie in eine Familie, in der alles klinisch keimfrei ist. Die Wirklichkeit ist da und bleibt da. Ein durchbohrtes Herz ist ein durchbohrtes Herz.
Was hat das mit den Tatoos zu tun? - Wir meinen sehr viel.
Was ist die nackte Wirklichkeit schlechthin? Unser Leib. Die Redensart sagt nicht umsonst: Niemand kann aus seiner eigenen Haut. Der Körper ist widerständig. Er zeigt sich uns jeden Tag. Er ist da, wie halt die Wirklichkeit da ist.
Der schwer Verletzte – und Abtreibungsüberlebende sind schwer Verletzte – wagt nun ein Äußerstes. Bereits gewohnt daran, die Wirklichkeit, die er als traumatisierend erfährt, zu manipulieren, beginnt er der gleichsam nackten Wirklichkeit wortwörtlich zu Leibe zu rücken: Seinem Körper.
Wenn es ihm gelingt, den Leib, dieses stets sichtbare Faktum, zu transformieren, dann beweist er sich damit, daß er stärker ist als die Wirklichkeit, die ihn seelisch tagein tagaus bedrängt. Ich erfinde mich neu, also bin ich. Die Haut wird neu geboren, unter Tätowierungsschmerzen, aber oft genug zeigt die neue Formung – verräterisch genug - das zugrundeliegende Movens, welches diese Häutung bestimmt, und welches nicht das Leben ist, sondern der Tod, derart, daß Totenschädel, in allen unmöglichen Variationen, zu den bevorzugten Tätowierungsmotiven avancieren.
Wer wissen will, wie die Welt ist, in der wir leben, sollte die Augen aufmachen. Die Wahrheit zeigt sich. Auch in Tätowierungen. Bei ästhetischen Kriterien sollten wir jedoch nicht stehenbleiben. Es geht um weitaus mehr. Wir sollten lernen, tiefer zu schauen. Besser zu schauen. Denn die wahren Zusammenhänge warten darauf, wahrgenommen zu werden.
Grafik: Photo by Allef Vinicius on Unsplash
Samstag, 12. Oktober 2019
Ich kenne im Leben
»Ich kenne im Leben nur eine einzige Schwierigkeit:
Den Vollzug der Wahrheit, Wahrhaftigkeit.«
Den Vollzug der Wahrheit, Wahrhaftigkeit.«
Reinhold Schneider
(1903 - 1958)
Grafik: www.baden-baden.de
Grafik: www.baden-baden.de
Samstag, 5. Oktober 2019
JA
Der Titel der Erzählung lautet Ja.
Erstveröffentlichung 1978. Eine der späteren Auflagen kommt in schwarzer Buchhülle daher, darauf in gelb der nackte Titel: Ja.
Man muß kein Germanist sein, um zu wissen, daß die Vokabel ja eine der Affirmation ist. Die kürzeste Art der Bejahung überhaupt. Wer ja sagt, bejaht.
Das Heimtückische an Thomas Bernhards Erzählung besteht aber nun gerade darin, daß er seine Obsession der Auslöschung naturgemäß bis zur Übertreibung treibt. Selbst das Ja muß zunichte gemacht werden. Denn die Vokabel der Bejahung verkehrt Bernhard ins genaue Gegenteil, zum Kürzel der Annihilation. Die Erzählung endet mit den Worten: »(…) «daß ich sie, die Perserin, ganz unvermittelt und tatsächlich in meiner rücksichtslosen Weise gefragt hatte, ob sie selbst sich eines Tages umbringen werde. Darauf hatte sie nur gelacht und Ja gesagt.»
Manche mögen diese semantische Verdrehung eine Pointe nennen, manche einen genialen literarischen Coup. Tatsächlich ist sie – ante diem - die Abbreviatur der modernen Wirrnis. In einer Welt, die zunehmend das Oben nach Unten kehrt und das Unten nach Oben, in der das Gute böse genannt wird und das Böse sich als glitzerndes Gutes präsentiert, in einer Welt, die der Propaganda eher folgt als dem nüchternen, sachlichen Wort, in einer solchen kopfstehenden Welt wird systematisch das exerziert, was bereits Bernhards Titel vorgibt: Daß man den nackten Herzwörtern und ihren Inhalten zu Leibe rückt, bis von den lebensstiftenden Bejahungen nichts mehr übrigbleibt als die tödliche Verneinung.
Wäre es nach Thomas Bernhard gegangen, hätte die optische Aufmachung des Buches seinerzeit wie folgt ausschauen sollen: Weißer Umschlag, schwarze Schrift, mit schwarzem Streifen unter dem Titel. Es wäre wie eine Trauer- Und Todesanzeige gewesen, so daß von Beginn an bis zum bitteren Ende der Leser gleichsam eingetaucht gewesen wäre in die suizidale Verdrehung.
Seit der Erstausgabe der Erzählung Ja sind über vierzig Jahre vergangen. Der Schock des ersten Lesens, damals, ist vermutlich heute keiner mehr. Denn der Anschlag auf das Ja, in welcher Ausprägung immer, zumal der Anschlag auf das Ja zum Leben, ist seitdem Standard und Mode. Und Bernhard wurde der verhätschelte Feuilletonliebling etlicher Anschläge.
Und doch hat derselbe Bernhard, der in seiner Erzählung der Bejahung den Boden unter den Füßen wegzieht, am Beginn seines Ruhms (datiert 12. XI. 62), einen Text mit dem Titel Zwei Freunde geschrieben, der, erst posthum veröffentlicht, einen der beiden Protagonisten fragen läßt: »(...)kann ein Mensch sein in jeder Beziehung? Und er bejate. Und er bejate das immer wieder damals (...)«.
Und er bejate.
Das ist der Bernhard, der es besser wußte. Damals. In der Freundschaft. 1962.
Erstveröffentlichung 1978. Eine der späteren Auflagen kommt in schwarzer Buchhülle daher, darauf in gelb der nackte Titel: Ja.
Man muß kein Germanist sein, um zu wissen, daß die Vokabel ja eine der Affirmation ist. Die kürzeste Art der Bejahung überhaupt. Wer ja sagt, bejaht.
Das Heimtückische an Thomas Bernhards Erzählung besteht aber nun gerade darin, daß er seine Obsession der Auslöschung naturgemäß bis zur Übertreibung treibt. Selbst das Ja muß zunichte gemacht werden. Denn die Vokabel der Bejahung verkehrt Bernhard ins genaue Gegenteil, zum Kürzel der Annihilation. Die Erzählung endet mit den Worten: »(…) «daß ich sie, die Perserin, ganz unvermittelt und tatsächlich in meiner rücksichtslosen Weise gefragt hatte, ob sie selbst sich eines Tages umbringen werde. Darauf hatte sie nur gelacht und Ja gesagt.»
Manche mögen diese semantische Verdrehung eine Pointe nennen, manche einen genialen literarischen Coup. Tatsächlich ist sie – ante diem - die Abbreviatur der modernen Wirrnis. In einer Welt, die zunehmend das Oben nach Unten kehrt und das Unten nach Oben, in der das Gute böse genannt wird und das Böse sich als glitzerndes Gutes präsentiert, in einer Welt, die der Propaganda eher folgt als dem nüchternen, sachlichen Wort, in einer solchen kopfstehenden Welt wird systematisch das exerziert, was bereits Bernhards Titel vorgibt: Daß man den nackten Herzwörtern und ihren Inhalten zu Leibe rückt, bis von den lebensstiftenden Bejahungen nichts mehr übrigbleibt als die tödliche Verneinung.
Wäre es nach Thomas Bernhard gegangen, hätte die optische Aufmachung des Buches seinerzeit wie folgt ausschauen sollen: Weißer Umschlag, schwarze Schrift, mit schwarzem Streifen unter dem Titel. Es wäre wie eine Trauer- Und Todesanzeige gewesen, so daß von Beginn an bis zum bitteren Ende der Leser gleichsam eingetaucht gewesen wäre in die suizidale Verdrehung.
Seit der Erstausgabe der Erzählung Ja sind über vierzig Jahre vergangen. Der Schock des ersten Lesens, damals, ist vermutlich heute keiner mehr. Denn der Anschlag auf das Ja, in welcher Ausprägung immer, zumal der Anschlag auf das Ja zum Leben, ist seitdem Standard und Mode. Und Bernhard wurde der verhätschelte Feuilletonliebling etlicher Anschläge.
Und doch hat derselbe Bernhard, der in seiner Erzählung der Bejahung den Boden unter den Füßen wegzieht, am Beginn seines Ruhms (datiert 12. XI. 62), einen Text mit dem Titel Zwei Freunde geschrieben, der, erst posthum veröffentlicht, einen der beiden Protagonisten fragen läßt: »(...)kann ein Mensch sein in jeder Beziehung? Und er bejate. Und er bejate das immer wieder damals (...)«.
Und er bejate.
Das ist der Bernhard, der es besser wußte. Damals. In der Freundschaft. 1962.