Dienstag, 25. Dezember 2018
Das Weihnachtsmärchen
Wer über Weihnachten nachdenkt, denkt über Märchen nach. Doch während man nach der Lektüre von Märchen oft genug seufzt: Zu schön, um wahr zu sein, ist das Weihnachtsmärchen genau das: Schön und wahr.
Künstler verstehen dies. Ein Boticelli etwa, der in seiner Mystischen Geburt Christi Engel im Reigentanz zeigt, weil diesem unfaßbaren Märchen der selige Tanz entspricht, der göttliche Reigen, der das Unausdenkbare in Schönheit besingt und beschreitet und feiert und preist.
Oder ein Schubert. Ja, der Schwammerl, wie ihn seine Freunde liebevoll nannten. Bei all seinen biographisch bedingten Schwierigkeiten mit der Kirche, schwingt er sich in seiner im Todesjahr 1828 komponierten Es-Dur-Messe zum Tanz der Menschwerdung auf. Man muß sein Et incarnatus est anhören, den genialen tänzerischen, schwebend-ernsten Takt mitvollziehen, um einen Geschmack davon zu bekommen, welch‘ ein Wunder wir lobsingen, wenn wir einander wünschen: Frohe, gesegnete Weihnachten!
Grafik: wiki commons
Montag, 24. Dezember 2018
Hodie. Heute
«Alle Vorkommnisse unseres Lebens, was immer es sei, ohne Ausnahme, sind Liebeszeichen Gottes. Die Anfänger im Erlernen dieser Sprache glauben, nur einige Worte sagten: Ich liebe dich. Die diese Sprache kennen, wissen, daß alles nur eine einzige Bedeutung hat. Gott hat kein Wort, um Seinen Geschöpfen zu sagen: Ich hasse dich.»
Simone Weil
(1909 - 1943)
Grafik: Georges de La Tour, Das Neugeborene, wiki commons
Freitag, 14. Dezember 2018
Der Augenblick
für M. T.
Behüte mich wie den Augapfel, den Stern des Auges, heißt es im Psalm 17,8. Die Vulgata, die traditionelle lateinische Übersetzung, schreibt sehr konkret: custodi me ut pupillam oculi (behüte mich wie die Pupille des Auges).
Man könnte dies für blumige, metaphorische Redeweise halten. Die Hebräer in ihrem semitischen Denkgestus übertreiben halt gerne.
Der Festtag Unserer Lieben Frau von Guadalupe, den die katholische Kirche am 12. Dezember begeht, kann einen dagegen eines Besseren belehren.
Wie bekannt sein dürfte, gehört das Gnadenbild von Guadalupe aus dem Jahre 1531 zu den sogenannten Acheiropoieta, das heißt zu den nicht von Menschenhand geschriebenen Ikonen. Die Entstehung des Bildes, sein Ursprung, seine Konsistenz, seine Bildsprache sind gänzlich mirakulös.
Nur kurz: In der vierten Erscheinung der Muttergottes, die dem getauften Indio Juan Diego auf einem Hügel nahe der heutigen Hauptstadt Mexiko gewährt wird, sagt Maria zu dem Seher, er solle auf den Gipfel des Hügels gehen und dort (es ist Winterzeit, der Boden ist steinig!) Blumen pflücken. Dies sei das Zeichen, welches dem zuständigen Bischof die Echtheit der Erscheinungen beweise.
Juan Diego tut, wie ihm aufgetragen ist. Er findet die Blumen, er pflückt sie, er sammelt sie in seinem Umhang und geht zurück zur Muttergottes. Diese ordnet die Blumenpracht und schickt ihn weiter zum Bischof.
Als man den Seher schließlich in der bischöflichen Residenz einläßt und Juan Diego vor dem Oberhirten und weiteren Versammelten steht und seinen Umhang öffnet, um die wundersamen Blumen zu zeigen, offenbart sich während des Öffnens ein weitaus größeres Wunder: Auf dem Umhang Juan Diegos entsteht, vor den Augen der Versammelten, das Bild der Muttergottes – seitdem von ungezählten Millionen von Gläubigen ehrfurchtsvoll verehrt.
Erst die Technologie der Neuzeit brachte neue Details zum Vorschein, die dem Gnadenbild weiteren Glanz verleihen.
So ergab eine Computeranalyse, in welcher die Augen der Muttergottes immens vergrößert wurden, daß in den Pupillen Unserer Lieben Frau offensichtlich exakt die Personen widergespiegelt sind, die das damalige Ereignis vor Ort erlebten.
Und damit erfährt die Bitte des biblischen Beters, der Schutz vor den Frevlern sucht und daher Gott bedrängt, Er möge ihn, den Bittenden, hineinnehmen in Seine Pupille, mit anderen Worten in Sein Eigenstes, um dort, im Blick Gottes, geborgen zu sein – diese dringliche, kraftvolle Bitte erfährt im Licht Guadalupes ihre himmlische Bestätigung.
Ja, so ist es. Gott hört auf das Flehen Seiner Kinder. Er schickt Seine Mutter, und diese Mutter ist keine distanzierte Beobachterin, sondern die Mit-Leidende und Mit-Fühlende und Mit-Erlöserin. Mein liebstes, kleinstes Söhnchen, so Maria zu Juan Diego, bin ich denn nicht hier, deine Mutter? Ja, die Mutter ist da, und als solche nimmt sie ihre Schutzbefohlenen in ihren Blick, so daß jeder Augenblick tatsächlich mütterlicher Augen-Blick ist.
Grafik: wiki commons
Freitag, 7. Dezember 2018
Die Geschenke. Und das Geschenk.
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«
So, vor bereits über vierzig Jahren, das im Nachhinein berühmt gewordene Diktum des deutschen Juristen E.-W. Böckenförde.
Wer etwa, so kann man zurecht fragen, gibt dem Staat die Regel, daß die Staatsbürger friedlich zusammenleben sollen? Woher bezieht der säkulare Staat eine solche Maxime? Aus welchen Quellen bezieht das deutsche Grundgesetz seine Norm von der Unantastbarkeit der Würde jedes Einzelnen?
Der Staat selbst, will er etwa die inhärente Unveräußerlichkeit der menschlichen Würde begründen, muß Anleihen bei außerstaatlichen Instanzen machen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Die christliche Anthropologie, hier die Sicht des Menschen als imago Dei, als Ebenbild Gottes, garantiert dem Menschen eben die Würde, von der der Staat zehrt.
Man kann freilich noch viel weitergehen. Dann sieht man, daß der säkulare Staat permanent auf den Schultern des Christentums steht, ohne das Fundament zu benennen oder überhaupt noch zu kennen.
Beispiel Advent.
Der Konsument wird tagein tagaus sperrfeuergleich attackiert, damit er seine sogenannten Lieben zu Weihnachten endlich mit der neuesten technischen Errungenschaft oder dem verführerischsten Parfum beschert. Weihnachten: Das überdimensionierte Konsumharmageddon.
Wieso eigentlich?
Warum beschenken wir uns nicht im Wonnemonat Mai? Wenn die Maiglöckchen blühen und die Walzerklänge in den Prateralleen locken und die Tage wärmer sind?
Aber nein, der Mai geht nicht. Denn wir leben halt, ob es uns nun bewußt ist oder nicht, in den christlichen Ressourcen, die wir gnadenlos verbrauchen. Und jeder Konsumartikel, glitzernd verpackt und gelangweilt entpackt, weist, vom Konsumenten unbeachtet, über sich hinaus auf das größte denkbare Geschenk überhaupt: Auf die Menschwerdung des wahren Gottes Jesus Christus.
Darum ist es nicht der Mai, sondern der Dezember. Denn der säkulare Staat verbraucht die christliche Voraussetzung, die er selbst nicht zu gewährleisten vermag.
Und selbst dann, wenn eine Zeit kommen sollte, in der in Österreich und Deutschland (um nur diese beiden Länder zu nennen) die christliche Substanz aufgebraucht und eine Revolution in Art der französischen eine neue Kalenderordnung einführen würde, so würden, wie es die Heilige Schrift nennt, die Steine aufschreien (Lk 19,40).
Und man darf ergänzen: Auch die Tiere. Im Frankreich der terreur verendeten irgendwann die Fiakerpferde an der revolutionären Zehntageswoche. Wo die Menschen verrohen, so die Moral von der Geschich', da schreien halt die Tiere und bekunden die Wahrheit der christlichen Zeitrechnung.
Denn das Geschenk, das den Erdkreis prägt, bleibt unvermindert da. Christus bleibt da. Die Krippe bleibt da. Das Kreuz bleibt da.
Grafik: Photo by freestocks.org on Unsplash
Samstag, 1. Dezember 2018
Advent
Vielleicht wissen die wenigsten, daß der Advent mit Abenteuer zu tun hat. Dazu sollte man einen Blick in die Sprachetymologie werfen. Beide Wörter – Advent und Abenteuer – entstammen derselben Wurzel. Im Altdeutschen wird Abenteuer aventiure genannt, da ist die sprachliche Verwandtschaft bereits deutlich. Und schaut man sich das Englische an, wird die inhaltliche Nähe sogleich greifbar: advent und adventure.
Nun war das, was das Mittelalter eine ritterliche aventiure nannte, weitaus mehr als ein moderner Selbsterforschungstrip oder ein riskantes Überlebenstraining, welches man unternimmt, weil einen die faden Abläufe der bourgeoisen Zivilgesellschaft anöden.
Der Ritter, der auf Fahrt ging und auf dieser Fahrt die bedeutsamen Er-fahr-ungen machte – und dazu gehörten auch die obligaten Ge-fahren – kam, wenn seine Fahrt glückte, zu guter Letzt beim Wesentlichen an.
Parzival, der Archteyp des Auf-Fahrt-Gehenden, zeigt die Richtung. Aufbrechend ist er der tumbe Tor. Er scheitert an den grundlegenden Fragen des Lebens. Erst allmählich, durch das Bestehen schwerwiegender Gefahren, durch das Geflecht von Schuldverstrickung und Verzeihung hindurch sowie durch etliche Wendungen des Geschicks, das kein kaltes Fatum ist, sondern die gütige, leitende Vorsehung des gütigen Gottes, kommt der Aufgebrochene an das Ziel der Fahrt und die entscheidenden Fragen klären sich zum lebendigen Ganzen. Wer bin ich? Wo komme ich her? Wer ist der Nächste? Wer ist Gott?
Im Gral, dem Kelch des heiligen Abendmahls, der das Blut Christi empfing, leuchtet auf das Ganze, offenbart sich der Sinn.
Der Advent, will er recht gelebt sein, sollte demnach die echten abenteuerlichen Zusammenhänge bedenken. 24 Tage lang macht sich der Pilger im Advent auf die entscheidende aventiure ins Herz des Lichts. In diesen Wochen wird er, wie der mittelalterliche Wanderer, den Gefahren des Weges konfrontiert sein. Der modernen Tristesse, der Versuchung des Sich-Ablenken-Lassens von der dunklen Welt Klingsors, der Müdigkeit, der Verwechslung des wahren Zieles mit fadenscheinigen Surrogaten, des sich Einrichtens in gemütlichen, betäubenden Behausungen aller Art, des sich Verlierens im Interessanten und Nebensächlichen.
Wer freilich seine Sehnsucht nicht verderben läßt, wer durchhält trotz verführerischer Einladungen zum Verlassen des einzig gültigen, königlichen Weges, der kommt an. Bei der Krippe. Beim göttlichen Kind. Beim Gloria in excelsis Deo.
Danach, so viel ist sicher, ist der Abenteurer ein anderer.
Grafik: Photo by Ben White on Unsplash
Donnerstag, 22. November 2018
Logisch
»Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen.«
Franz Kafka
Grafik: Photo by Jez Timms on Unsplash
Freitag, 16. November 2018
Weh denen
Der größte Abtreibungskonzern weltweit ist die International Planned Parenthood Federation (IPPF). Allein die amerikanische Tochterfirma PP führt jeden Tag in den USA an die 1000 Abtreibungen durch, tötet also jeden Tag 1000 ungeborene Kinder, und dies in allen Lebensstadien der Schwangerschaft.
Seit Jahrzehnten wird dabei PP nicht müde, zu behaupten, das ungeborene Kind sei nichts weiter als ein Zellhaufen. Die bildgebenden Verfahren der Moderne, etwa der hochtechnisierte Ultraschall, entlarven freilich diese Aussage als das, was sie ist: Lüge. Das weiß auch PP. Also wird eine andere Strategie angewendet. Die neueste, in einer einminütigen Videowerbung plaziert, sieht folgendermaßen aus:
Ein Baby, ein Mädchen, lächelt mit großen Augen und wunderbar strahlend frontal in die Kamera. Dann der erste Schriftzug: Sie verdient, geliebt zu werden.
Das Baby lächelt weiter. Und der zweite Schriftzug erscheint: Sie verdient, erwünscht zu sein.
Und wieder strahlt das Baby. Und die finale Schrift erscheint: Sie verdient, eine Wahl zu sein.
Perverser geht‘s nimmer.
Schon der Slogan Sie verdient, erwünscht zu sein, ist grundfalsch. Denn alle Kinder sind Wunschkinder. Der Slogan unterstellt jedoch, daß es Wunschkinder gibt und Kinder, die keine Wunschkinder sind. Und was macht man mit den letzteren? Man ahnt es bereits.
Und der letzte Schriftzug bestätigt das Geahnte. Diese Kinder darf man getrost abtreiben.
Das Wort Abtreibung fällt dabei kein einziges Mal. Doch genau darum geht‘s, um das brutale Töten der süßen Babies. Denn das Codewort Wahl (choice) ist in Amerika und schließlich über die Vereinigten Staaten hinaus zum Abtreibungskennwort schlechthin geworden. Pro choice zu sein bedeutet für die Abtreibung zu sein. Die Frau hat die schreckliche Wahl. Sie, indoktriniert von PP, entscheidet, welches Baby zur Welt kommt und welches nicht. Das süße Baby, welches da so lieblich in die Kamera lacht, hat kein Mitspracherecht. Ja, die Perversion geht dahin, daß dem Zuschauer suggeriert wird, dieses Babygirl selbst wäre einverstanden damit, abgetrieben zu werden, wenn es unerwünscht wäre.
Der kurze Clip ist mit einer Schlafmusik unterlegt: Guten Abend, gute Nacht… a lulleby of love. Perverser geht‘s nimmer. Beim Propheten Jesaia heißt es: »Weh denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse.«
Der deutsche Ableger des internationalen Abtreibungskonzerns ist die deutsche pro familia und in Österreich die Österreichische Gesellschaft für Familienplanung.
Seit Jahrzehnten wird dabei PP nicht müde, zu behaupten, das ungeborene Kind sei nichts weiter als ein Zellhaufen. Die bildgebenden Verfahren der Moderne, etwa der hochtechnisierte Ultraschall, entlarven freilich diese Aussage als das, was sie ist: Lüge. Das weiß auch PP. Also wird eine andere Strategie angewendet. Die neueste, in einer einminütigen Videowerbung plaziert, sieht folgendermaßen aus:
Ein Baby, ein Mädchen, lächelt mit großen Augen und wunderbar strahlend frontal in die Kamera. Dann der erste Schriftzug: Sie verdient, geliebt zu werden.
Das Baby lächelt weiter. Und der zweite Schriftzug erscheint: Sie verdient, erwünscht zu sein.
Und wieder strahlt das Baby. Und die finale Schrift erscheint: Sie verdient, eine Wahl zu sein.
Perverser geht‘s nimmer.
Schon der Slogan Sie verdient, erwünscht zu sein, ist grundfalsch. Denn alle Kinder sind Wunschkinder. Der Slogan unterstellt jedoch, daß es Wunschkinder gibt und Kinder, die keine Wunschkinder sind. Und was macht man mit den letzteren? Man ahnt es bereits.
Und der letzte Schriftzug bestätigt das Geahnte. Diese Kinder darf man getrost abtreiben.
Das Wort Abtreibung fällt dabei kein einziges Mal. Doch genau darum geht‘s, um das brutale Töten der süßen Babies. Denn das Codewort Wahl (choice) ist in Amerika und schließlich über die Vereinigten Staaten hinaus zum Abtreibungskennwort schlechthin geworden. Pro choice zu sein bedeutet für die Abtreibung zu sein. Die Frau hat die schreckliche Wahl. Sie, indoktriniert von PP, entscheidet, welches Baby zur Welt kommt und welches nicht. Das süße Baby, welches da so lieblich in die Kamera lacht, hat kein Mitspracherecht. Ja, die Perversion geht dahin, daß dem Zuschauer suggeriert wird, dieses Babygirl selbst wäre einverstanden damit, abgetrieben zu werden, wenn es unerwünscht wäre.
Der kurze Clip ist mit einer Schlafmusik unterlegt: Guten Abend, gute Nacht… a lulleby of love. Perverser geht‘s nimmer. Beim Propheten Jesaia heißt es: »Weh denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse.«
Der deutsche Ableger des internationalen Abtreibungskonzerns ist die deutsche pro familia und in Österreich die Österreichische Gesellschaft für Familienplanung.
Freitag, 9. November 2018
Die Rose, immer
Diktatur meint ein Regime, welches tyrannisch, gegebenenfalls mit Gewalt, seine Ideologie durchsetzt. Relativismus meint eine Haltung, der alles gleichgültig ist, die unablässig die Gleichwertigkeit aller Meinungen postuliert, Wahrheit als obsoletes Konstrukt brandmarkt, dabei jedoch – denn wir befinden uns wie gesagt in einer Diktatur - jeden Abweichler der zwangsverordneten Maßnahmen rigoros an den Pranger stellt, wiewohl sie doch angeblich jede Ansicht für gleichberechtigt hält.
Nun ist diese Diktatur des Relativismus nicht vom Himmel gefallen. Sie hat vielmehr ihre emsigen Förderer, Werbeträger, Multiplikatoren, Höflinge – und Literaten. Denn damit die Diktatur ihren akademisch-ästhetischen Anstrich bekommt, dazu bedarf es des Literaten, der geschickt die notwendige Patina zur Verfügung stellt, die der Diktatur quasi den Nimbus des Auratischen verleiht.
Umberto Eco ist einer der Vorreiter der relativistischen Agenten und Mitläufer. Sein Roman Der Name der Rose wurde nicht zufällig ein internationaler Bestseller. Er paßte haargenau in die Diktatur des Relativismus, und raffinierter noch, er jonglierte mit katholischen Requisiten, plazierte die Handlung in eine altehrwürdige Abtei, zitierte das Stundengebet der Kirche, spielte mit biblischen Referenzen und gab sich als Kenner der monastischen Praktiken, so daß der von der kriminalistischen Geschichte narkotisierte Leser den Roman gar für eine moderne Variante einer seriösen Wahrheitssuche mißverstehen konnte.
Ein Freund hatte mir seinerzeit, verführt von den multiplen religiösen Bezügen, den Roman zur Lektüre empfohlen. Verführt, denn tatsächlich zelebriert der Roman die genüßliche Zerstörung jedes Wahrheitsanspruchs und legt die Abtei, welche, wenn es mit rechten Dinge zuginge, das katholische Bollwerk wäre, am Ende der Handlung in Schutt und Asche.
Die vermeintliche Suche nach Sinn ist eine Illusion. Es gibt keinen. Das nominalistische Fazit des Romans, das, wenn man es jeder intellektuell glitzernden Falschmünzerei entkleidet, der schieren Verzweiflung das Wort redet, lautet: »Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen bringen, die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit zu befreien.«
Aber, so höre ich den Leser des Romans entgegnen. Aber der Roman ist doch nicht so ernst zu nehmen, seine Lektüre macht Spaß, darum geht‘s, um den Spaß an der Literatur. Es ist dasselbe Argument, mit dem der Harry-Potter-Leser anmarschiert kommt: Aber der Spaß. Man soll nicht übertreiben, das Ganze nicht so ernst nehmen.
Damit tut man Eco keinen Gefallen, der einst sehr wohl die Wahrheit kannte. Als Sechzehnjähriger war er frommer Kirchgänger, nach seinen eigenen Worten ging er täglich zur heiligen Kommunion. Und als junger Mann promovierte er über die Ästhetik des heiligen Thomas von Aquin. Danach geschieht der Abfall. Eco gibt den katholischen Glauben auf, und der Spott und der Zynismus und der beißende Skeptizismus beginnen ihre zerstörerische Maulwurfsarbeit. Das ist Ecos Entscheidung. Kein ominöses Fatum, sondern die Entscheidung des Literaten Eco für die Destruktion.
Nicht einmal die Rose darf am Ende bleiben. Denn auch die Rose ist lediglich ein Name, ein verwelktes Zeichen, nichtssagende Konvention.
Ach je. Jeder Liebende weiß es besser. Goethe weiß es besser:
Ist’s möglich, daß ich, Liebchen, dich kose,
Vernehme der göttlichen Stimme Schall!
Unmöglich scheint immer die Rose,
Unbegreiflich die Nachtigall.
Grafik: Photo by Tom The Photographer on Unsplash
Freitag, 2. November 2018
Der Arme-Seelen-Ablaß
»Vom 1. bis 8. November kann täglich einmal ein vollkommener Ablaß für die Verstorbenen gewonnen werden«, so steht es in den kirchlichen Weisungen.
Was heißt das?
Nehmen wir ein Beispiel.
Robert, ein 54jähriger, der gerade mit seinen Arbeitskollegen Geburtstag gefeiert und dabei, was eigentlich nicht seine Art ist, zu viel Alkohol konsumiert hat, setzt sich nach der Feier in sein Auto und fährt nach Hause. Da er jedoch nicht mehr nüchtern ist, verursacht er auf dieser Fahrt einen Unfall, bei dem er selbst stirbt und ein fremder Autofahrer lebensgefährlich verletzt wird und für immer querschnittgelähmt bleibt.
Nehmen wir an, daß Robert ansonsten ein frommer Katholik ist, d.h. ein Katholik, der regelmäßig zu den Sakramenten geht, der zur Beichte geht, der Todsünden meidet und derart sich bemüht, ein rechtschaffenes Leben zu leben.
Und nehmen wir weiter an, daß er im Augenblick seines Todes, in einem Akt gottgeschenkter Gnade, seine Sünde der Trunkenheit bereut und also vom Herrn Verzeihung erlangt hat.
Was Robert jedoch weiterhin anhaftet, ist die Tatsache, daß er durch seine Sünde quasi eine Art geistige Finsternis in die Welt gebracht hat. Zudem: Was ist mit dem Opfer des Unfalls, dem Querschnittgelähmten, der jahre- oder jahrzehntelang an den Rollstuhl gefesselt ist aufgrund der Sünde von Robert? Robert selbst kann diese Tat nicht mehr rückgängig machen, die schrecklichen Konsequenzen des von Robert verschuldeten Unfalls - sowohl die geistigen wie die materiellen - verbleiben daher als sogenannte zeitliche Sündenstrafen auf Robert lasten.
Und hier nun greift der Ablaß.
Derjenige, der den Ablaß betet, kann die Früchte des Ablasses dem verstorbenen Robert zuwenden, damit dessen zeitliche Sündenstrafen angemessen abgebüßt werden. Der Ablaß ist folglich ein überbordendes Geschenk der Kirche, die noch über den Tod hinaus Sorge trägt für ihre Kinder, und dies, indem sie zum einen die Gemeinschaft der Gläubigen dem Beter bewußt macht, eine Gemeinschaft, in der jeder – in Art von kommunizierenden Röhren – Verantwortung für den Nächsten trägt, und zum zweiten dort Hoffnung schenkt, wo rein menschlich gesehen keine Hoffnung in Sicht ist (denn Robert kann, wie gesagt, das Geschehene nicht ungeschehen machen).
Den Beter des Ablasses hat man sich derart vorzustellen, daß er die Früchte des Ablasses gleichsam wie einen Schatz der Kirche anheimgibt, die diesen Gnadenschatz verwaltet und austeilt. Der Beter bittet für Robert, d.h. er bittet darum, daß die Frucht des Ablasses Robert zugute kommt und auf diese Weise der Beter mitwirken darf daran, daß die zeitlichen Sündenstrafen Roberts getilgt werden und seine Zeit im Fegefeuer abgekürzt wird. In den Worten einer katholischen Dogmatik: »Die Sündenstrafen, die der Ablaß nachläßt, sind die von der göttlichen Gerechtigkeit über den Sünder verhängten Strafen, welche entweder in diesem Leben oder im Fegefeuer abgebüßt werden können.«
Wenn man es recht versteht, und das heißt, wenn man es nicht rechnerisch-kalkulatorisch versteht, nicht als eine Abrechnung, so als sei Gott eine Art göttlicher Finanzbeamter, sondern im Verständnis der Logik der göttlichen Gnadenerweise, dann wird man erkennen, daß alles (auch der Ablaß), wie Pater Pio es ausdrückte, ein Liebesspiel ist: Tutto è scherzo d‘amore.
Wer die Ablaßregelung der Kirche ignoriert, weil er sie aufgrund von Vorurteil oder Ignoranz für eine Art mittelalterlichen Mummenschanz oder Aberglauben hält, der könnte beherzigen, was der heilige Pfarrer von Ars hinsichtlich der Ablaßgewinnung sagte: »Wir gehen über die Ablässe hinweg, wie man nach der Ernte über das Stoppelfeld geht. Wie sehr werden wir das in der Sterbestunde bereuen!«
Der Allerseelenablaß: Die Bedingungen
Vom 1. bis 8. November kann täglich einmal ein vollkommener Ablaß für die Verstorbenen gewonnen werden.
Neben den üblichen Voraussetzungen (Beichte, wobei eine zur Gewinnung mehrerer vollkommener Ablässe genügt; entschlossener Abkehr von jeder Sünde; Kommunionempfang und Gebet in den Anliegen des Papstes – diese Erfordernisse können mehrere Tage vor oder nach dem Kirchen- bzw. Friedhofsbesuch erfüllt werden) sind erforderlich:
a) an Allerheiligen oder am Allerseelentag oder am Sonntag vor oder nach Allerheiligen (einschließlich des Vortages ab 12 Uhr): Besuch einer Kirche oder öffentlichen Kapelle, Vaterunser und Glaubensbekenntnis; in Hauskapellen können nur die zum Haus Gehörenden den Ablaß gewinnen;
oder
b) vom 3. bis zum 8. November: Friedhofsbesuch und Gebet für die Verstorbenen.
Fehlt die volle Disposition oder bleibt eine der Bedingungen unerfüllt, ist es ein Teilablaß für die Verstorbenen. Ein solcher kann in diesen und auch an den übrigen Tagen des Jahres durch Friedhofsbesuch wiederholt gewonnen werden.
Was heißt das?
Nehmen wir ein Beispiel.
Robert, ein 54jähriger, der gerade mit seinen Arbeitskollegen Geburtstag gefeiert und dabei, was eigentlich nicht seine Art ist, zu viel Alkohol konsumiert hat, setzt sich nach der Feier in sein Auto und fährt nach Hause. Da er jedoch nicht mehr nüchtern ist, verursacht er auf dieser Fahrt einen Unfall, bei dem er selbst stirbt und ein fremder Autofahrer lebensgefährlich verletzt wird und für immer querschnittgelähmt bleibt.
Nehmen wir an, daß Robert ansonsten ein frommer Katholik ist, d.h. ein Katholik, der regelmäßig zu den Sakramenten geht, der zur Beichte geht, der Todsünden meidet und derart sich bemüht, ein rechtschaffenes Leben zu leben.
Und nehmen wir weiter an, daß er im Augenblick seines Todes, in einem Akt gottgeschenkter Gnade, seine Sünde der Trunkenheit bereut und also vom Herrn Verzeihung erlangt hat.
Was Robert jedoch weiterhin anhaftet, ist die Tatsache, daß er durch seine Sünde quasi eine Art geistige Finsternis in die Welt gebracht hat. Zudem: Was ist mit dem Opfer des Unfalls, dem Querschnittgelähmten, der jahre- oder jahrzehntelang an den Rollstuhl gefesselt ist aufgrund der Sünde von Robert? Robert selbst kann diese Tat nicht mehr rückgängig machen, die schrecklichen Konsequenzen des von Robert verschuldeten Unfalls - sowohl die geistigen wie die materiellen - verbleiben daher als sogenannte zeitliche Sündenstrafen auf Robert lasten.
Und hier nun greift der Ablaß.
Derjenige, der den Ablaß betet, kann die Früchte des Ablasses dem verstorbenen Robert zuwenden, damit dessen zeitliche Sündenstrafen angemessen abgebüßt werden. Der Ablaß ist folglich ein überbordendes Geschenk der Kirche, die noch über den Tod hinaus Sorge trägt für ihre Kinder, und dies, indem sie zum einen die Gemeinschaft der Gläubigen dem Beter bewußt macht, eine Gemeinschaft, in der jeder – in Art von kommunizierenden Röhren – Verantwortung für den Nächsten trägt, und zum zweiten dort Hoffnung schenkt, wo rein menschlich gesehen keine Hoffnung in Sicht ist (denn Robert kann, wie gesagt, das Geschehene nicht ungeschehen machen).
Den Beter des Ablasses hat man sich derart vorzustellen, daß er die Früchte des Ablasses gleichsam wie einen Schatz der Kirche anheimgibt, die diesen Gnadenschatz verwaltet und austeilt. Der Beter bittet für Robert, d.h. er bittet darum, daß die Frucht des Ablasses Robert zugute kommt und auf diese Weise der Beter mitwirken darf daran, daß die zeitlichen Sündenstrafen Roberts getilgt werden und seine Zeit im Fegefeuer abgekürzt wird. In den Worten einer katholischen Dogmatik: »Die Sündenstrafen, die der Ablaß nachläßt, sind die von der göttlichen Gerechtigkeit über den Sünder verhängten Strafen, welche entweder in diesem Leben oder im Fegefeuer abgebüßt werden können.«
Wenn man es recht versteht, und das heißt, wenn man es nicht rechnerisch-kalkulatorisch versteht, nicht als eine Abrechnung, so als sei Gott eine Art göttlicher Finanzbeamter, sondern im Verständnis der Logik der göttlichen Gnadenerweise, dann wird man erkennen, daß alles (auch der Ablaß), wie Pater Pio es ausdrückte, ein Liebesspiel ist: Tutto è scherzo d‘amore.
Wer die Ablaßregelung der Kirche ignoriert, weil er sie aufgrund von Vorurteil oder Ignoranz für eine Art mittelalterlichen Mummenschanz oder Aberglauben hält, der könnte beherzigen, was der heilige Pfarrer von Ars hinsichtlich der Ablaßgewinnung sagte: »Wir gehen über die Ablässe hinweg, wie man nach der Ernte über das Stoppelfeld geht. Wie sehr werden wir das in der Sterbestunde bereuen!«
Der Allerseelenablaß: Die Bedingungen
Vom 1. bis 8. November kann täglich einmal ein vollkommener Ablaß für die Verstorbenen gewonnen werden.
Neben den üblichen Voraussetzungen (Beichte, wobei eine zur Gewinnung mehrerer vollkommener Ablässe genügt; entschlossener Abkehr von jeder Sünde; Kommunionempfang und Gebet in den Anliegen des Papstes – diese Erfordernisse können mehrere Tage vor oder nach dem Kirchen- bzw. Friedhofsbesuch erfüllt werden) sind erforderlich:
a) an Allerheiligen oder am Allerseelentag oder am Sonntag vor oder nach Allerheiligen (einschließlich des Vortages ab 12 Uhr): Besuch einer Kirche oder öffentlichen Kapelle, Vaterunser und Glaubensbekenntnis; in Hauskapellen können nur die zum Haus Gehörenden den Ablaß gewinnen;
oder
b) vom 3. bis zum 8. November: Friedhofsbesuch und Gebet für die Verstorbenen.
Fehlt die volle Disposition oder bleibt eine der Bedingungen unerfüllt, ist es ein Teilablaß für die Verstorbenen. Ein solcher kann in diesen und auch an den übrigen Tagen des Jahres durch Friedhofsbesuch wiederholt gewonnen werden.
Freitag, 26. Oktober 2018
Cis Moll
Nach zahllosen Irrungen und Verhängnissen, nach Teufelspakt und bitterem Erwachen findet Faust am Ende des zweiten Teils die erlösende Antwort: Es ist die Liebe, die – was der tragische Held schon im Hohelied des Apostels Paulus hätte nachlesen können – alles trägt und niemals aufhört: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan; das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.
Das Schöne an diesem geheimnisvollen Fazit ist, daß diese Liebe, wenn man nur aufmerksam genug ist, sich wahrnehmen läßt in unendlichen Variationen, Melodien, Verästelungen, Tröstungen und Heiterkeiten.
Ein Beispiel.
Am Ende seines Lebens, gerade mal einunddreißigjährig, kommen Musikanten bei Schubert zusammen und spielen ihm das cis-Moll Quartett, op 131, von Beethoven vor. Es ist Schuberts eigener Wunsch, dieses späte Streichquartett Beethovens zu hören, welches Beethoven selbst ein Jahr vor seinem Tod komponierte.
Daß dieses Werk, wie die späten Streichquartette insgesamt, zu den einsam dastehenden Meisterwerken musikalischer Kunst gehört, wurde oft genug, gerade auch von Musikern, betont. Strawinsky etwa schrieb hinsichtlich dieses Quartetts: »Die am meisten zu Herzen gehende Musik ist für mich der Beginn der Andante moderato – Variation. Seine Stimmung ist mit nichts vergleichbar (…) und seine Intensität wäre, wenn sie auch nur einen Takt länger anhielte, nicht auszuhalten.«
Schubert, der zeit seines Lebens Beethoven liebevoll verehrt, der oft genug sich überkritisch zermürbt im Gedanken, ob überhaupt jemand nach Beethoven noch etwas zuwege zu bringen vermag, hört das Quartett und ist begeistert, entzückt, ergriffen.
Fünf Tage später ist Schubert tot.
Der Musikwissenschaftler Ludwig Nohl notiert: »Das cis-Moll-Quartett war die letzte Musik, die er gehört!« Und weiter: »Dem Liederkönig hatte der König der Harmonie die Hand freundlich zur Überfahrt geboten.«
Denn die Liebe hört niemals auf, und auch der Tod setzt der Liebe keine Schranken.
Freitag, 19. Oktober 2018
Die Kunst und das Heilsame
»Aber abseits wer ist’s?Mit diesen trüben Worten beginnt die Alt-Rhapsodie von Johannes Brahms, eine Vertonung von Ausschnitten der Goetheschen Harzreise im Winter.
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
Das Gras steht wieder auf,
Die Öde verschlingt ihn.«
Der Text und auch die Musik lassen keinen Zweifel: Hier ist das Portrait eines durch und durch Verzweifelten, eines im Leben Niedergeschlagenen, eines Schwerkranken. Die Welt, sub specie aeternitatis, als Hinweis der Herrlichkeit gedacht, wird dem Verzweifelten zur Wüste, zur Öde, zum Ort, der letztlich als unbewohnbar gilt. Aus der Fülle der Liebe, so heißt es wenig später, trinkt sich der abseitig Verlierende Menschenhaß, Balsam wird ihm zu Gift.
Die Erfahrung, die Goethe beschreibt, und die, an ihn anknüpfend, Brahms vertont, ist eine, die den Menschen heimsucht. Es mag sein, daß jemand dieser Heimsuchung in extremis ausgesetzt ist, während ein anderer nur schwache Ausläufer der Gefährdung erlebt. Aber die grundlegende Herausforderung, nämlich die der Auseinandersetzung zwischen dem Abgründigen und das heißt dem nach Unten Ziehenden und dem jedem Leben eingeschriebenen Drang zu leben und also den Blick zu heben ins Offene (Hölderlin: »Komm! Ins Offene, Freund!«), ist einem jeden Menschen aufgegeben.
Und sowohl Goethe wie auch Brahms wissen, aus eigenem biographischen Erleben, um diesen entscheidenden Kampf, und beide wissen zudem, daß der Kunst, die den Namen Kunst verdient, bei aller Durchdringung des Dunklen, letztlich aufgegeben ist, sich durchzuringen zum Hellen.
Darum beläßt es Brahms nicht bei der Düsternis der Schilderung des Wundwaiden, sondern er fragt: »Ach, wer heilet die Schmerzen?« Und die Musik des Norddeutschen geht nicht über die Verzweiflung des Getroffenen hinweg, sondern geht verständnisvoll dessen Schritte mit, um ihn jedoch schließlich der größeren Frage anheimzugeben, die den Blick des Kranken, der sich verkrampft in die ungenügende Selbstsucht, zu weiten ins einzig Notwendende: »Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton seinem Ohre vernehmlich?«.
Und dieser Ton, den gibt es. Denn Brahms läßt diesen Ton vernehmen. Im unaufdringlichen, doch um so herzergreifenderen Übergang zum trostvollen C-Dur macht der große Künstler Brahms nicht nur dem Niedergeschlagenen der Rhapsodie, sondern im Grunde jedem Niedergeschlagenen hörbar, daß es die Öffnung gibt, die Quelle, die Liebe, die Erquickung – und dies nicht irgendwo oder in einem fernen Utopia, sondern hier, mitten in der Wüste:
»Ist auf deinem Psalter,(Der Wechsel hin zum Trost ab Minute 9.40)
Vater der Liebe, ein Ton
Seinem Ohre vernehmlich,
So erquicke sein Herz!
Öffne den umwölkten Blick
Über die tausend Quellen
Neben dem Durstenden
In der Wüste!«
Samstag, 13. Oktober 2018
Finita la musica
»Nur der Teufel kennt keine Musik.«
Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen
Grafik:
Photo by Claus Grünstäudl on Unsplash
Samstag, 6. Oktober 2018
Wahrheit statt Gewohnheit
Von Marcel Proust, dem berühmten Autor der Recherche (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), gibt es eine kurze Skizze, in der er einen Konzertbesuch schildert. Nun wäre Proust nicht Proust, wenn nicht das Mondäne stets bei ihm mit von der Partie ist. Doch zu Prousts Begabung gehört gerade auch, daß er im Medium des Mondänen wünschelrutengängergleich plötzlich die moralische Lehre aufblitzen läßt, die alles Mondäne überschreitet.
Den ersten Teil des Konzerts hat der Erzähler verpaßt. Danach – Proust ist jetzt im Auditorium – gibt man Beethovens Fünfte Symphonie. Wie Proust das Andante und überhaupt die Wirkungen der Musik beschreibt, ist bestenfalls gefälliges Feuilleton; das muß uns hier nicht interessieren.
Doch dann notiert Proust, noch im Rausch des musikalischen Genusses, in seiner »essayistischen Erzählung« das Folgende:
»In diesem Augenblick hörte ich, wie ganz in meiner Nähe eine Dame zu einer anderen sagte: Möchten Sie ein Bonbon? Der Schmerz, den ich erlitt, war erfüllt von Mitleid, mit Mißstimmung, vor allem mit Erstaunen, daß unter so heroischen Bedingungen, da alle Interessen eines großherzigen Geistes gefesselt sind, jemand noch den gefräßigen Magen, den trägen Leib spüren konnte. Erst jetzt bemerkte ich, daß viele Zuhörer dem sanften Wiegen und dann den wollüstigen oder schrecklichen Suggestionen der Musik unzugänglich geblieben waren. Wir alle, die wir ihnen erlegen waren, kamen nur zögernd wieder zu Atem, als wir uns nach dem Konzert wieder im Freien befanden, und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.«Bei allem Unzulänglichen in Prousts Analyse der Kunstwirkung (z. B.: große Kunst macht den Empfangenden weder zum apathischen Erliegenden noch zum körperlosen Geistwesen) ist Prousts Fazit korrekt und kann nicht präziser formuliert werden: … und unsere Herzen waren für einen Augenblick freigeräumt von allem, was sie hinderte, die Wahrheit und die Schönheit zu sehen.
Eben das macht die Kunst. Sie zeugt vom Wahren und vom Schönen, und da das Wahre und das Schöne Transzendentalien sind und also Seinsweisen, die das Begrenzte übersteigen, eröffnen sie letzthin den Weg zur Erkenntnis des einzig und vollkommen Wahren und Schönen, zu Gott.
Und Proust, der weiß Gott kein Theologe war, doch als Künstler dem Gespür des Künstlers nachzugehen verstand, zeigt zugleich die Machinationen des Menschen vis-à-vis des Großen, vis-à-vis der großen Kunst.
Da die große Kunst das Dürftige übersteigt und gnadenhafter Vorschein der wahren Heimat ist, neigt der Mensch dazu, diesen herrschaftlichen Anspruch der Größe kleinzureden oder ins Banale herabzuziehen – in den Genuß eines Bonbons.
Und selbst diejenigen, die das Moment des Großen und den Aufschwung der Seele in echter Weise erfahren haben, sind der lauernden Gefahr der Trivialisierung nicht entzogen. Bei ihnen besteht die Gefährdung darin, daß sie – was Proust gleichfalls seziert – nach einer göttlichen Atempause schließlich doch in der Weise sich weitertreiben lassen, als sei das soeben Empfangene nicht mehr als Gischt, die im Wellengang des Tageintagaus spurenlos versinkt:
»Doch bald nahm das Leben uns wieder in seinen Griff. Wir hatten beschlossen, in den noch offenen Louvre zu gehen; Leutnant S… erinnerte sich nach wenigen Minuten, daß er Besuche zu machen hatte, mein Bruder begab sich zum Tee in der Rue Royale, wo er hoffte, Madame*** zu treffen, und die anderen gingen ihre Seele verleugnen, einige, wohin sie Lust hatten, die meisten, wohin die Gewohnheit sie trieb.«Gewohnheit statt Wahrheit.
Da fällt einem die Weisheit eines frühen Kirchenschriftstellers ein:
»Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem, cognominavit – Christus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit, nicht: Ich bin die Gewohnheit«
Freitag, 28. September 2018
Leben oder Tod
Wer auch nur ein bisserl die sogenannten Hearings im amerikanischen Senat verfolgt, die seit Wochen die Nominierung des Juristen Brett Kavanaugh zum Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zum Thema haben, kann wie in einem Intensivkurs lernen, welches Thema Top 1 weltweit ist – es ist das Thema Leben und Lebensschutz, mit anderen Worten die pro-life-Agenda.
Und es gibt zwei Lager, die sich gegenüberstehen, und diese beiden Lager hat Johannes Paul II. für alle Zeiten gültig benannt: Das eine Lager ist die Kultur des Lebens, das andere Lager ist die Kultur des Todes.
Die letzten Wochen der Hearings zeigen nun eines in grasser Deutlichkeit: Die Verbissenheit und – man kann es nicht anders sagen – der diabolische Furor der Anhänger der Kultur des Todes, den Tod mit welchen Mitteln auch immer zu lancieren. Und dies ist keine metaphorische oder gar blumige Rede, sondern die nackte Realität.
Was fürchten die Apologeten der Kultur des Todes? Sie fürchten, daß dann, wenn Brett Kavanaugh tatsächlich als Richter des OGH der Vereinigten Staaten bestätigt würde, diese richterliche Erstinstanz nach Jahrzehnten zum ersten Mal mit Höchstrichtern besetzt wäre, die insgesamt eine pro-life-Mehrheit bildeten. Damit aber wäre die längst überfällige Revision des infamen Roe-versus-Wade-Urteils, welches 1973 die Abtreibung in den USA straffrei stellte, in Aussicht.
Nun verdienen jedoch, und das ist kein Geheimnis, etliche Firmen durch die Inkrafttretung dieses grundumstürzenden Urteils seit anno 73 sich eine goldene Nase. Zum Beispiel: Planned Parenthood of America, die Tochterfirma des internationalen Abtreibungskonzerns International Planned Parenthood Federation, macht jedes Jahr Millionen Dollar blutigen Umsatz durch die Abtreibung, sprich die Tötung von unschuldigen ungeborenen Kindern.
Ein einfaches Rechenexempel: 2009 führte PP laut eigenen Angaben 332,278 Abtreibungen durch. Durchschnittskosten pro Abtreibung: $468 (laut Guttmacher Institut). Totaleinkommen aufgrund von Abtreibungen: $155,506,104. In Worten: 155 Millionen. Totaleinkommen der PP Einrichtungen: $404,900,000.
Und wenn es darum geht, das Tötungsgeschäft weiter rollen zu lassen, dann sind den Abtreibungsbefürworten alle Mittel recht, auch die willentliche Vernichtung eines bislang unbescholtenen Kandidaten.
Was Kavanaugh in den Hearings über sich ergehen lassen muß, ist mit einem Wort ungeheuerlich. Das Neueste: Plötzlich tritt eine sogenannte Belastungszeugin auf und beschuldigt ihn der sexuellen Übergriffigkeit, die angeblich in seiner Gymnasialzeit stattgefunden habe. Sogenannte Zeugen, die die Anklägerin angibt, wissen von nichts. Nur, seit dieser Anklage geht Kavanaugh mitsamt seiner Familie durch die sprichwörtliche Hölle. Seine beiden Töchter bekommen online Todesdrohungen, er selbst wird plötzlich ohne jede Evidenz als Täter portraitiert, die liberalen Medien fallen über ihn her, so, als stünde das Urteil seit langem fest.
Und genau so ist: Das Urteil steht schon längst fest. Kavanaugh muß weg, denn es gilt um jeden Preis, die Agenda des Todes zu prolongieren. Wohlgemerkt: Um jeden Preis. Und wenn dabei Kavanaugh und seine Familie unter die Räder kommen, dann ist dies eine quantité négligeable, nach der kein liberaler Hahn kräht.
Und um das Maß voll zu machen, hat eine Untersuchung des Media Research Center gerade eben ergeben, daß die Abtreibungsgruppierungen, die maßgeblich hinter den Attacken gegen den Nominierten Kavanaugh stehen, millionenschwer von jemandem finanziert werden, der stets seine Finger im Spiel hat, wo die Agenda des Todes zur Debatte steht. Gemeint ist der Multimilliardär George Soros. Er unterstützt mit sage und schreibe 246 Millionen den Anti-Kavanaugh-Protest.
Ein Horrorfilm könnte nicht schauriger sein. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann im Herbst 2018 in aller nötigen Klarheit wahrnehmen, in welchem Kampf wir tatsächlich stehen. Lebensschützer wissen es eh. Es geht um nichts weniger als um Alles - um Leben oder Tod.
Grafik: Photo by Michal Bar Haim on Unsplash
Freitag, 21. September 2018
Homo patiens
Ihre Bühnenpräsenz hat man gerühmt. Ihre unvergleichliche Jahrhundertstimme. Ihre darstellerische Kraft und Ausstrahlung. Ihr Gespür für kleinste Nuancen und musikalische Schattierungen.
Ja, das stimmt alles.
Aber vielleicht ist das Eindrücklichste, was Maria Callas verkörperte, das, was man gerne vergessen will: Daß der Mensch ein Leidender ist - homo patiens.
Man höre sich etwa nur die Eingangsarie der Lucia di Lammermoor an, so, wie die Callas sie singt. Die Arie gehört nicht zu den herausragenden der Opernliteratur, auch nicht zu den Bravourstücken der Lucia. Da wird man eher die berühmte Wahnsinnsarie bemühen.
Aber das macht nichts. Callas gelingt es, vom ersten Takt an, das Leiden hörbar zu machen. Und diese Gabe durchzieht ihre Diskographie. Und diese Gabe ist kein Konstrukt, über welches sich akademisch diskutieren ließe. Zu dieser Gabe gehört geradezu die granitene Einfachheit. Die Callas singt, und der Zuhörer weiß: So ist es. Das Leiden entzieht sich der Interpretation. Callas stellt das Faktum dar, das Unumstößliche. Der Mensch ist ein Leidender. Nicht weil die Callas es gerne so hätte, sondern weil es so ist.
Visconti, der Filmregisseur, der die Callas bewunderte und für sie zum Opernregisseur wurde, erzählt in einem Interview folgende bezeichnende Geschichte. Er ist in der Opernloge und hört wie hypnotisiert der Callas zu. Irgendwann registriert er, daß noch jemand in der Loge ist, und er dreht sich nach dem fremden Gast um. Es ist Elisabeth Schwarzkopf, die berühmte Sopranistin. Und Visconti sieht, wie der bekannten Sängerin die Tränen die Wangen hinunterrinnen.
Daß die Callas auf der Bühne das urmenschliche Faktum der Leidensfähigkeit des homo sapiens hörbar macht, ist ihrem künstlerischen Ethos zu verdanken. Sie wolle, so sagte sie, der Kunst dienen. Und das hieß, sie wollte der Wahrheit des Darzustellenden dienen.
Jenseits der Bühne mochte es sein, daß die Callas in der Welt des Glamours und des Jetsets und der stets extravaganteren Modecreationen sich verzweifelnd verlor. Auf der Bühne fiel dies von ihr ab. Da regierte der unbedingte Wahrheitsanspruch der Kunst. Und dieser Kunst stellte sie sich als Dienerin, nicht als Beherrscherin, zur Verfügung.
»Ein Mensch, der nicht gelitten hat, was weiß der?«, fragt ein deutscher Mystiker.
Maria Callas hat gelitten. Das ist keine Indiskretion, sondern Tatsache. Doch ist es gefährlich, als Leidende die Bühne zu betreten. Die Gefahr besteht darin, das eigene Leiden gleichsam exhibitionistisch zur Schau zu stellen. Eben dieser Klippe entgeht die Callas. Statt exhibitionistisch zu sein, ist sie existentiell. Sie singt ihr Leben, während der Zuhörer wahrnimmt, daß zugleich sein Leben in der Waagschale liegt.
Diese Woche, am 16. September, jährte sich der Todestag der Maria Callas.
Ja, das stimmt alles.
Aber vielleicht ist das Eindrücklichste, was Maria Callas verkörperte, das, was man gerne vergessen will: Daß der Mensch ein Leidender ist - homo patiens.
Man höre sich etwa nur die Eingangsarie der Lucia di Lammermoor an, so, wie die Callas sie singt. Die Arie gehört nicht zu den herausragenden der Opernliteratur, auch nicht zu den Bravourstücken der Lucia. Da wird man eher die berühmte Wahnsinnsarie bemühen.
Aber das macht nichts. Callas gelingt es, vom ersten Takt an, das Leiden hörbar zu machen. Und diese Gabe durchzieht ihre Diskographie. Und diese Gabe ist kein Konstrukt, über welches sich akademisch diskutieren ließe. Zu dieser Gabe gehört geradezu die granitene Einfachheit. Die Callas singt, und der Zuhörer weiß: So ist es. Das Leiden entzieht sich der Interpretation. Callas stellt das Faktum dar, das Unumstößliche. Der Mensch ist ein Leidender. Nicht weil die Callas es gerne so hätte, sondern weil es so ist.
Visconti, der Filmregisseur, der die Callas bewunderte und für sie zum Opernregisseur wurde, erzählt in einem Interview folgende bezeichnende Geschichte. Er ist in der Opernloge und hört wie hypnotisiert der Callas zu. Irgendwann registriert er, daß noch jemand in der Loge ist, und er dreht sich nach dem fremden Gast um. Es ist Elisabeth Schwarzkopf, die berühmte Sopranistin. Und Visconti sieht, wie der bekannten Sängerin die Tränen die Wangen hinunterrinnen.
Daß die Callas auf der Bühne das urmenschliche Faktum der Leidensfähigkeit des homo sapiens hörbar macht, ist ihrem künstlerischen Ethos zu verdanken. Sie wolle, so sagte sie, der Kunst dienen. Und das hieß, sie wollte der Wahrheit des Darzustellenden dienen.
Jenseits der Bühne mochte es sein, daß die Callas in der Welt des Glamours und des Jetsets und der stets extravaganteren Modecreationen sich verzweifelnd verlor. Auf der Bühne fiel dies von ihr ab. Da regierte der unbedingte Wahrheitsanspruch der Kunst. Und dieser Kunst stellte sie sich als Dienerin, nicht als Beherrscherin, zur Verfügung.
»Ein Mensch, der nicht gelitten hat, was weiß der?«, fragt ein deutscher Mystiker.
Maria Callas hat gelitten. Das ist keine Indiskretion, sondern Tatsache. Doch ist es gefährlich, als Leidende die Bühne zu betreten. Die Gefahr besteht darin, das eigene Leiden gleichsam exhibitionistisch zur Schau zu stellen. Eben dieser Klippe entgeht die Callas. Statt exhibitionistisch zu sein, ist sie existentiell. Sie singt ihr Leben, während der Zuhörer wahrnimmt, daß zugleich sein Leben in der Waagschale liegt.
Diese Woche, am 16. September, jährte sich der Todestag der Maria Callas.
Samstag, 15. September 2018
Es gibt
»Es gibt Licht genug für die, welche nichts anderes wollen als sehen,
und Dunkelheit genug für die, welche eine entgegengesetzte Veranlagung haben.«
Blaise Pascal
Grafik: Photo by Janus Y on Unsplash
Freitag, 7. September 2018
Der Nachbar III
Ich erinnerte mich plötzlich. Einmal (wann war es gewesen?) hatte ich ihn im Hohen Dom gesehen. Ich war in den Dom gegangen, weil mich (ähnlich ihm) das Treiben in der Stadt, wo ich zur Buchhandlung war, ermüdet hatte, und der Dom war mir, wie ihm, die Zufluchtsstätte gewesen vor dem Lärm und der Zerstreuung. Ich war hinuntergestiegen in die Krypta des Domes, denn ich wußte, daß dort das Allerheiligste ausgesetzt war. Ich stieg die Stufen hinab, durchquerte einen Raum mit uralten Sarkophagen und betrat schließlich die Anbetungskapelle. Ein zweiter Beter war in der Kapelle, Ich hatte ihn nicht weiter beachtet. Ich kam mit meinen Gedanken und meinen Sorgen und brachte mein Leben dem Herrn. Aber irgendwann wendete ich meinen Blick zur Linken. Vielleicht war es deswegen, weil ich, der ich unruhig war und unfähig, still in meiner Bank zu knien, womöglich davon betroffen war, daß der zweite Beter in der Kapelle in äußerster Bewegungslosigkeit und Stille verharrte. Ich schaute zu ihm hinüber. Erst jetzt erkannte ich, daß der zweite Beter mein Nachbar war. Er bemerkte mich nicht, denn offensichtlich, was auch ein weniger Geschulter leichthin hätte feststellen können, war er versunken in die heilige Anwesenheit, die sich ihm darbot. Es ist nichts Mystisches, dachte ich mir, so erinnere ich mich. Es war, und dies war das Bestürzende für mich, die äußerste Selbstverständlichkeit, die ich erlebte. Die Versenkung des Nachbarn war nicht das Außergewöhnliche, sondern das Gewöhnliche. Er lebte den Alltag, nur das, aber dieser Alltag, hier unten im Steingemäuer der Krypta, verlangte seine ganze Zeugenschaft. Er war nicht abwesend, wie man vielleicht denken könnte, wenn man von Versenkung reden hört, er war vielmehr der wirklich Anwesende in der Kapelle, weil er sich von dem Ersten Anwesenden, dem ausgesetzten Herrn, mit hineinnehmen ließ in die nackte Gegenwart.
»Die Anbetung vollendete mein Sehen«, so er. »Hier erhielt ich meine Sendung. Denn nachdem ich bereits monatelang auf meinem Platz in der Kapelle niedergekniet war, hörte ich eines Tages die Worte: Geh in die Lokale. Ich verstand erst nach und nach. Und ich gehorchte. Hatte ich nicht selbst immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, meine Erfahrung zu bezeugen? Aber hatte ich nicht immer wieder auch die Erfahrung gemacht, daß meine Geschichte verworfen wurde? Einem Verlag, dem ich meine Geschichte unter dem Titel Das Antlitz in einem Manuskript mitgeteilt hatte, schrieb zurück, es sei als Roman zu schlecht erfunden und als Tatsachenbericht zu erfinderisch. Und doch hatte ich zeugen wollen. Aber wie? Die Antwort war einfach, wie letztlich alles sehr einfach ist. Die Sterneckstraße liegt in der Nähe des Bahnhofsgeländes. Dort reiht sich Amüsierlokal an Amüsierlokal, Bierlokal an Bierlokal. Wenn es sehr später Abend wurde, machte ich mich auf den Weg. Ich suchte die Lokale auf, nahm am Tresen oder an einem der Tische Platz und wartete auf das Weitere. Hier, in Räumen, wo der Lärm oft unerträglich war, wo die Luft zum Ersticken war, wo die Räume selbst im Grunde Gefängnisse waren, gab ich Zeugnis. Fremde setzten sich an meinen Tisch und wir kamen ins Gespräch. Andere Fremde luden mich auf ein Bier ein, und wir sprachen miteinander. Es konnte auch sein, daß ich einen ganzen Abend und eine ganze Nacht lang nichts sprach und somit der stille, sehende, unwiderrufliche Zeuge war. Es sind jetzt drei Jahre her, daß ich meine nächtlichen Gänge aufnahm, es begann am 14. September. Der Rhythmus ist unverändert geblieben seitdem. Aus der Anbetung gehe ich in die Dunkelheit. Ich gehe in der Dunkelheit los, ich gehe in die Dunkelheit hinein, und wenn der Morgen anbricht kehre ich in meine Wohnung zurück. Gestern sagte ich einem Dreiundzwanzigjährigen, der sich in dem Tanzlokal, dessen Wände allesamt mit schwarzer Lackfolie ausgekleidet sind, an meinen Tisch setzte: Unsere Heimat ist im Himmel, und der Dreiundzwanzigjährige begann zu weinen.«
Ich habe meinen Nachbarn die folgenden Monate nur selten gesehen, mal bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt, mal im Haus. Wir wechselten jedes Mal ein paar Worte, aber es kam nie zu einem ausführlichen Gespräch. Ich hatte den Eindruck, er versteht mich und ich verstehe ihn. Es war im April des darauffolgenden Jahres (April the cruellest month), einem Karsamstag, als es an meiner Wohnungstüre klingelte und ein mir Unbekannter mir ein Paket überreichte mit den Worten, dies sei von meinem Nachbarn, an mich adressiert, und hiermit würde es mir übergeben. Auf mein Unverständnis und Nachfragen hin erfuhr ich folgendes: Mein Nachbar war in der Frühe des Dienstags gestorben. In der Nacht zuvor war er auf dem Nachhauseweg in der Nähe des Bahnhofs von einem betrunkenen Wagenlenker angefahren worden und Stunden später im Spital an seinen inneren Blutungen verstorben. Das Paket, das an mich adressiert war, aber nicht aufgegeben worden war, hatte mich dennoch erreicht, denn, wenn ich mich recht erinnere, war es der Cousin des Verstorbenen, der die Wohnung meines Nachbarn auflöste, der das Paket bei den Aufräumarbeiten gefunden und zu mir gebracht hatte. Ich bedankte mich, stammelte ein paar Worte und zog mich in mein Zimmer zurück. Es war furchtbar still. Ich tat nichts, ich saß einfach in meinem Sessel. Als ich die Kordel, die das Paket einschnürte, löste, schien es mir, als würde ich Schnüre lösen, die zu einer Unendlichkeit gehörten und die in der Unendlichkeit geknüpft worden waren. Das Paket enthielt drei Dinge. Obenauf lag eine Photographie. Sie zeigte meinen Nachbarn, an einem Sommertag. Er schaute mich, den Betrachter an. Ich habe nie geradere Augen gesehen. Unter der Photographie befanden sich vier CD’s. Auf jeder einzelnen stand geschrieben: Das Johannesevangelium, dann folgten unterschiedliche Kapitel- und Verszählungen. Ich nahm die CD’s in meine Hände. Die Tränen liefen mir die Wangen hinab. Bei unserer Begegnung in seinem Zimmer, damals, im September, hatte mein Nachbar, als er mich ins Vorhaus brachte, wo wir uns verabschiedeten, zum Schluß, bevor er die Türe hinter mir schloß, noch gesagt: »Das Licht leuchtet in der Finsternis, nicht wahr.« Ich hatte ja gesagt, dann war ich weiter, die Stiegen hoch, in mein Zimmer. Und ich nahm den dritten Gegenstand aus dem Paket. Er war in Zeitungspapier eingewickelt. Es war sein Mauskript, sein abgelehntes Manuskript. Es ging auf Mittag zu. Von ferne hörte man die hölzernen Klappern. Ich begann zu lesen. »Mein Nachbar. Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen… «
Samstag, 1. September 2018
Der Nachbar II
»Es war an Weihnachten«, so mein Nachbar, »vor drei Jahren. Eine meiner Bekannten hatte mir vier CD’s geschenkt, aber nicht gesagt, worum es sich bei den Aufnahmen handelte. Sie hatte nur gesagt, ich solle sie mir anhören, es sei eine Überraschung. Ich hatte das Geschenk angenommen und dann zur Seite gelegt, ich hätte es mehr oder weniger vergessen, wenn nicht acht Tage später, es war am Neujahrstag, eine große Langeweile mich überfallen hätte. Alles ödete mich an. Mein Zimmer, die Stadt, die Leute, die Welt. Alles war schrecklich bekannt, nichts Neues weit und breit, immer derselbe Prozeß, der sich zwar neue Namen gab, aber unter jedem Namen kam, wenn der Lack abblätterte, die altbekannte nichtssagende Monotonie zum Vorschein, die ihrerseits, wenn ich ehrlich war, die verlogene Vokabel war für einen Befund, der als korrekte Diagnose den Begriff der Verzweiflung verdient gehabt hätte. In diesem Stadium fiel mir ein, daß ich irgendwo etwas hingelegt hatte, das ich an Weihnachten bekommen und nicht ausgepackt hatte. Ich suchte nach den CD’s und legte die erste in das Abspielgerät. Ich weiß die Stunde, da es war, es war früher Nachmittag, am ersten Jänner, um fünfzehn Uhr. Ich erwartete Musik, irgend etwas, ich rechnete nicht mit dem, was folgte. Nach einer längeren Stille begann eine Stimme. Sie setzte unmittelbar ein, ohne Erklärung, ohne Einleitung, ohne jedwede Vorbemerkung, da sie offensichtlich überzeugt war, daß das, was sie vortrug, genügte. Ich hätte das Gerät ausschalten können, ich hätte mich hinlegen und den ganzen Nachmittag schlafen können, auf der Liege oder in meinem Bett. Ich hätte irgend jemanden anrufen können. Ich hätte irgend etwas anderes machen können. Aber ich blieb und hörte zu. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt. Es gab nichts zu erwidern. Alles, was ich hörte, war wahr. Ich hörte und hörte. Die Worte waren Wasser. Ich trank und trank. Ich hatte wenige Minuten vorher nicht gewußt, welchen Durst ich hatte. Jetzt trank ich, die Worte drangen in mich ein, ich spürte sie in meinem Mund, in meiner Kehle, in meiner Speiseröhre. Ich roch ihren Duft, sie dufteten wie frisch gemähtes Heu und mein Durst entzündete gleichsam das Heu und es loderte in mir. Das Wort war unaufhaltsam. Es fiel auf trockenen Boden, auf rissige Erde, und es schaffte die Erde neu. Es war mein Zimmer, hier, in der Sterneckstraße, es war der erste Jänner, es war das Geschenk der Bekannten, das ich hörte, und meine Erde wurde neu geschaffen. Hatte ich mit geschlossenen Augen zugehört? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur dies: Ich hörte die Stimme und die Stimme sagte: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, und ich sah. Ich sah die Herrlichkeit dieses Nachmittags. Ich sah mein Fenster, das auf die gegenüberliegende Hauswand blickt, ich sah diesen Sessel und meine Hände und das Abspielgerät und das Licht dieses Nachmittags, das den Schnee auf den Fenstersimsen der gegenüberliegenden Häuserwand funkeln ließ. Kein Zweifel war möglich. Das Wort, das ich gehört hatte, hatte meine Augen geöffnet. Ich blieb still. Ich hörte staunend dem Wort weiter zu. Seht das Lamm Gottes, hörte ich. Ich hörte: Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt, und die Mutter Jesu war dabei. Ich hörte: Er, der von oben kommt, steht über allen. Er, der aus dem Himmel kommt, steht über allen. Was er gesehen und gehört hat, bezeugt er, doch niemand nimmt sein Zeugnis an. Und ich rief: Ich nehme dein Zeugnis an, ich nehme dein Zeugnis an. Und ich hörte immer zu: Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden?, und die Tränen liefen mir die Wangen hinab.«
Er sprach nicht von Vergangenem. Ich sah mein Gegenüber und sah die Tränen in seinen Augen schimmern. Ich sah seine ganze Freude und seine ganze Wehmut. Er sagte: »Ich bin ein Sünder. Schau«, und er schwieg. Dann sagte er:
»Am nächsten Tag ging ich zu meinem Augenarzt. Er machte auf mein Drängen hin einen Sehtest mit mir. Ich erkannte die Buchstaben und die Zahlen. Der Sehtest bestätigte, was ich bereits wußte. Der Jubel in mir war unbeschreiblich. Der Arzt sagte wenig. ‚Sie sehen’, sagte er. Dann sagte er, bezugnehmend auf meine Erfahrung vom Vortrag, die ich ihm in kurzen Worten während des Sehtests erzählt hatte: ‚Aber man wird Ihnen nicht glauben. Wir Menschen sind halt so, Sie dürfen uns keine Vorwürfe machen. Nicht jeder ist ein Mediziner und hat Geräte zur Verfügung, um mit Ihnen einen Sehtest zu veranstalten. Ich rate Ihnen, unauffällig weiter durch das Leben zu gehen. Freuen Sie sich über Ihre Besserung, aber behalten Sie sie für sich.’ ‚Ich kann sie nicht für mich behalten’, erwiderte ich. Aber er streckte bereits seine Hand zu mir hin, denn der nächste Patient im zweiten Ordinationszimmer wartete. Ich verließ die Arztpraxis und stand draußen, wo ab und an Schneeflocken aus der Höhe fielen. Zugleich mit dem Geschenk des Augenlichts hatte ich das Geschenk der Einsicht erhalten. Obwohl ich bislang nie Schnee gesehen hatte, wußte ich, dies ist Schnee. Und ich wußte auch alles andere: Daß dies eine Straßenbahn ist, und dies die Farbe rot, und dies der Himmel. Ich ging zu meinem Vater. Meine Mutter war vor vier Jahren gestorben, mein Vater lebte allein in seinem weiten Haus. Die Einsamkeit erdrückte ihn täglich, seine Gedanken kreisten um das immer selbe: Warum war er zurückgeblieben, während seine Gattin davongegangen war? Wir saßen im Wohnzimmer. Er erzählte Nebensächlichkeiten, die sein Leben waren. Ich versuchte, ihm zu erzählen, was mir passiert war. Es bedurfte mehrerer Anläufe. Er hörte zu, aber es kam mir vor, als hörte er einer fremden Geschichte zu, nicht der Geschichte seines Sohnes. Ich hätte einen Ausbruch der Freude erwartet, einen Umschwung, ein Ich-weiß-nicht-was, aber es blieb alles beim Alten. Als ich zu Ende erzählt hatte, war eine Pause, dann stand er auf und sagte, er müsse noch zum Friedhof. Er ging in das Vorhaus, wo sein Gewand hing. Ich begleitete ihn auf die Straße und die wenigen Schritte bis zur Kreuzung. Dann trennten wir uns.« (Fortsetzung folgt)
Er sprach nicht von Vergangenem. Ich sah mein Gegenüber und sah die Tränen in seinen Augen schimmern. Ich sah seine ganze Freude und seine ganze Wehmut. Er sagte: »Ich bin ein Sünder. Schau«, und er schwieg. Dann sagte er:
»Am nächsten Tag ging ich zu meinem Augenarzt. Er machte auf mein Drängen hin einen Sehtest mit mir. Ich erkannte die Buchstaben und die Zahlen. Der Sehtest bestätigte, was ich bereits wußte. Der Jubel in mir war unbeschreiblich. Der Arzt sagte wenig. ‚Sie sehen’, sagte er. Dann sagte er, bezugnehmend auf meine Erfahrung vom Vortrag, die ich ihm in kurzen Worten während des Sehtests erzählt hatte: ‚Aber man wird Ihnen nicht glauben. Wir Menschen sind halt so, Sie dürfen uns keine Vorwürfe machen. Nicht jeder ist ein Mediziner und hat Geräte zur Verfügung, um mit Ihnen einen Sehtest zu veranstalten. Ich rate Ihnen, unauffällig weiter durch das Leben zu gehen. Freuen Sie sich über Ihre Besserung, aber behalten Sie sie für sich.’ ‚Ich kann sie nicht für mich behalten’, erwiderte ich. Aber er streckte bereits seine Hand zu mir hin, denn der nächste Patient im zweiten Ordinationszimmer wartete. Ich verließ die Arztpraxis und stand draußen, wo ab und an Schneeflocken aus der Höhe fielen. Zugleich mit dem Geschenk des Augenlichts hatte ich das Geschenk der Einsicht erhalten. Obwohl ich bislang nie Schnee gesehen hatte, wußte ich, dies ist Schnee. Und ich wußte auch alles andere: Daß dies eine Straßenbahn ist, und dies die Farbe rot, und dies der Himmel. Ich ging zu meinem Vater. Meine Mutter war vor vier Jahren gestorben, mein Vater lebte allein in seinem weiten Haus. Die Einsamkeit erdrückte ihn täglich, seine Gedanken kreisten um das immer selbe: Warum war er zurückgeblieben, während seine Gattin davongegangen war? Wir saßen im Wohnzimmer. Er erzählte Nebensächlichkeiten, die sein Leben waren. Ich versuchte, ihm zu erzählen, was mir passiert war. Es bedurfte mehrerer Anläufe. Er hörte zu, aber es kam mir vor, als hörte er einer fremden Geschichte zu, nicht der Geschichte seines Sohnes. Ich hätte einen Ausbruch der Freude erwartet, einen Umschwung, ein Ich-weiß-nicht-was, aber es blieb alles beim Alten. Als ich zu Ende erzählt hatte, war eine Pause, dann stand er auf und sagte, er müsse noch zum Friedhof. Er ging in das Vorhaus, wo sein Gewand hing. Ich begleitete ihn auf die Straße und die wenigen Schritte bis zur Kreuzung. Dann trennten wir uns.« (Fortsetzung folgt)
Samstag, 25. August 2018
Der Nachbar I
Photographie, griech. Lichtbild. (Duden)
»Ich bin«, so mein Nachbar, »von Geburt an blind gewesen.«
Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen. Wir hatten einander gegrüßt, vielleicht zwei, drei Sätze gewechselt, das Übliche, aber dann war jeder seiner Wege gegangen. Ich weiß nicht, was es gewesen ist, daß uns diesmal zusammengeführt hat, anders als die anderen Male.
Wir standen eine Weile auf dem Stiegenabsatz. Ich hätte das nächste Stockwerk höher gehen können, um sogleich in meiner Wohnung zu verschwinden, aber ich blieb stehen. Er sagte: »Warum gehen wir nicht auf einen Kaffee?« Ich war einverstanden. Ich folgte ihm in seine bescheidene Wohnung. Er wies mir einen Platz in einem kleinen Zimmer, dann machte er sich in der Küche zu schaffen, um nach wenigen Minuten zurückzukehren und den Kaffee zu servieren. Alles war sehr einfach, schlicht, die Einfachheit an einem einfachen Septembernachmittag. Auch unser Gespräch war einfach. Er erzählte, aber es war nicht die Neugier, die er befriedigte. Er erzählte vielmehr so, wie einer, der ein notwendiges Wissen, das ihm geschenkt worden ist, weitergibt an einen anderen, nicht deswegen, weil er mit seinem Wissen glänzen will, sondern weil jetzt die Zeit zur Weitergabe ist und diese Zeit zu nutzen ist. Ein anderer hätte Scham gehabt oder Hemmung, aber an diesem einfachen Nachmittag lagen alle Dinge im klaren Licht des Nachsommers, nichts war belastend, nichts traurig machend. Ich hörte zu, ich war der Beschenkte.
»Die Schwangerschaft meiner Mutter war regulär verlaufen, es hatte keine Komplikationen gegeben, auch nicht bei der Entbindung. Zwar war die damalige Technik bei weitem nicht so fortgeschritten wie heutzutage, es gab zum Beispiel noch keine Ultraschallgeräte, aber selbst wenn es diese gegeben hätte, ich bin gewiß, man hätte keine Irregularitäten festgestellt. Meine Mutter freute sich auf mich. Meine Eltern hatten lange auf ein Kind gewartet, aber es hatte vier Jahre gedauert, bis ihr Kinderwunsch Erfüllung fand. Und ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Man war davon ausgegangen, daß ich, wenn auch ein spätes Kind, so doch ein Kind wie tausend andere sein würde. Es dauerte eine Weile, bis man bemerkte, daß ich blind zur Welt gekommen war. War es nicht grausam? Ich hatte, wie man gemeinhin sagt, das Licht der Welt erblickt, aber tatsächlich hatte ich am 25. September jenes Jahres nicht das Licht der Welt erblickt, denn ich war blind. Meine Mutter überlegte, was sie falsch gemacht haben könnte, sie suchte nach einer Schuld in ihrem Leben oder ihrem Verhalten, die meine Blindheit ursächlich bedingt haben könnte. Desgleichen mein Vater, der, wie mir meine Mutter einmal mitteilte, lange Zeit sich in Grübeleien verlor, weil er meine Erblindung für eine Strafe hielt, die statt ihn mich getroffen hatte. Aber da war keine Strafe und kein Vergehen. Keiner konnte den Grund meiner Erblindung nennen, auch die Ärzte nicht. Ich war blind, das war alles. Und da ich nichts anderes kannte als meine Blindheit, richtete ich mich in meiner Blindheit ein. Ich lebte wie fast alle, nur daß ich ohne Augenlicht war. Ich ging zur Schule, ich machte Prüfungen, ich arbeitete halbtags, ich verliebte mich. Wenn ich gefragt wurde, wann ich selbst zum erstenmal um meine Blindheit gewußt hatte, dann erzählte ich die folgende Geschichte: Es war im Alter von vier oder auch fünf Jahren gewesen. Ein Spielkamerad, mit dem ich draußen spielte, sagte zu mir: Schau, wie schwarz der Himmel ist, bald gibt es ein Gewitter. Es war die unbedachte Äußerung eines Fünfjährigen. Aber von diesem Augenblick an wußte ich. Es hatte sicherlich bereits andere Gelegenheiten gegeben, die mich ebenso mit meiner Blindheit konfrontierten, aber diese Gelegenheiten waren spurlos an mir vorübergegangen, sie hatten mich nicht geändert. Nach dem Ausruf meines Spielkameraden jedoch begann eine Verwandlung. Es war ein Zwiespalt, der begann. Ich wußte, ich bin anders. Die anderen sahen den Himmel und die Farben und die Menschen und die Dinge. Ich aber war blind. Doch ich wollte kein Außenseiter sein. War ich nicht ein Mensch wie jeder andere auch? Was verschlug es, blind geboren zu sein? Lag es nicht an mir, aus der Blindheit etwas zu machen? Ich wollte dazugehören, auf jeden Fall, darum begannen ab nun meine Anstrengungen, wie alle zu sein, während gleichzeitig tief innen eine überaus sanfte, unauslöschliche Stimme mich anlächelte und mich anschaute, und ich vermochte, obgleich ich blind war, diese Stimme oder auch diesen Mund zu sehen, und ich hörte, wie sie zu mir von meiner Blindheit sprach und von meinem Leben und meinen Wünschen und meinem Verlangen, und jedesmal, wenn diese Stimme in gleichsam schmerzender, unendlicher Güte du zu mir sagte oder von meiner Blindheit sprach, so nicht, um mich in der Dunkelheit einzuschließen, sondern im Gegenteil, um meine Wahrheit zu wollen. Und ich? Ich verstand nicht. Nicht, als ob ich diese Stimme nicht gewollt hätte. Es war nicht so, als ob ich einen aktiven Widerstand gegen diese Stimme geleistet hätte. Es war anders. Indem ich das Andere wollte, die Anerkennung, die Zugehörigkeit, das Dazugehören um jeden Preis, bezahlte ich, nicht-wissend wissend, den Preis, daß die Stimme zunehmend leiser wurde, glimmend, beinahe unhörbar. Es war ein Prozeß wie so viele andere, ein Prozeß, von dem man einst sagen würde, daß das Leben halt so ist, daß es Zwänge gibt und Konstellationen, die einem keine Wahl lassen, daß man gebunden ist, daß das Leben im letzten Last ist, die es zu tragen gilt, auch wenn die Last einem den Schweiß in die Augen treibt und der Schweiß den Blick trübt. Das ist das Leben, sagten meine Bekannten. Das ist das Leben, sagte ich und versuchte, mein Leben zu meistern. Ich bekam Auszeichnungen von der Handelskammer, in der Zeitung stand ein entsprechender Bericht, ich ging aus, sonntags ging ich zur Kirche, werktags machte ich Späße, ich bettelte um Zuneigung, ich hatte es geschafft. Ich war wie alle. Verstehen Sie?«
Während seiner Rede hatte ich ihn angeschaut. Er redete sachlich, seine Sätze waren wie Wasser, sehr durchsichtig und klar. Bei der letzten Frage machte er eine kleine Pause und ein Lächeln, kaum merklich, war um seine Lippen. Ich schaute in seine Augen. Die Farbe war braun, ein dunkles Braun, mich erinnerte sie an das dunkle, glänzende Fell eines edlen Tieres. Er schenkte mir nach: »Darf ich?« Ich hielt ihm meine Tasse hin. An der Haustür klingelte es. Er ging eine Weile nach draußen, ich hörte seine Stimme im Vorhaus, einzelne deutliche Worte, dann wieder undeutliche Wortstücke. Als er in das Zimmer zurückkam, setzte er seine Rede, so als sei sie nie unterbrochen worden, fort, in einer Haltung, die ich nicht anders denn als Treue bezeichnen könnte, als eine Art sachlicher Treue, und dieser Gedanke löste gleichsam als Kettenreaktion das Wort Treuhänder in mir aus, und dieser Name schien mir der geeignete für mein Gegenüber: Er war ein Treuhänder, der mir jetzt, in dieser Stunde, etwas, wie es heißt, zu treuen Händen übermittelte, und meine Aufgabe bestand lediglich darin, zuzuhören, dazusein, in Empfang zu nehmen, denn der Treuhänder war mein Nachbar.
(Fortsetzung folgt)
»Ich bin«, so mein Nachbar, »von Geburt an blind gewesen.«
Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen. Wir hatten einander gegrüßt, vielleicht zwei, drei Sätze gewechselt, das Übliche, aber dann war jeder seiner Wege gegangen. Ich weiß nicht, was es gewesen ist, daß uns diesmal zusammengeführt hat, anders als die anderen Male.
Wir standen eine Weile auf dem Stiegenabsatz. Ich hätte das nächste Stockwerk höher gehen können, um sogleich in meiner Wohnung zu verschwinden, aber ich blieb stehen. Er sagte: »Warum gehen wir nicht auf einen Kaffee?« Ich war einverstanden. Ich folgte ihm in seine bescheidene Wohnung. Er wies mir einen Platz in einem kleinen Zimmer, dann machte er sich in der Küche zu schaffen, um nach wenigen Minuten zurückzukehren und den Kaffee zu servieren. Alles war sehr einfach, schlicht, die Einfachheit an einem einfachen Septembernachmittag. Auch unser Gespräch war einfach. Er erzählte, aber es war nicht die Neugier, die er befriedigte. Er erzählte vielmehr so, wie einer, der ein notwendiges Wissen, das ihm geschenkt worden ist, weitergibt an einen anderen, nicht deswegen, weil er mit seinem Wissen glänzen will, sondern weil jetzt die Zeit zur Weitergabe ist und diese Zeit zu nutzen ist. Ein anderer hätte Scham gehabt oder Hemmung, aber an diesem einfachen Nachmittag lagen alle Dinge im klaren Licht des Nachsommers, nichts war belastend, nichts traurig machend. Ich hörte zu, ich war der Beschenkte.
»Die Schwangerschaft meiner Mutter war regulär verlaufen, es hatte keine Komplikationen gegeben, auch nicht bei der Entbindung. Zwar war die damalige Technik bei weitem nicht so fortgeschritten wie heutzutage, es gab zum Beispiel noch keine Ultraschallgeräte, aber selbst wenn es diese gegeben hätte, ich bin gewiß, man hätte keine Irregularitäten festgestellt. Meine Mutter freute sich auf mich. Meine Eltern hatten lange auf ein Kind gewartet, aber es hatte vier Jahre gedauert, bis ihr Kinderwunsch Erfüllung fand. Und ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Man war davon ausgegangen, daß ich, wenn auch ein spätes Kind, so doch ein Kind wie tausend andere sein würde. Es dauerte eine Weile, bis man bemerkte, daß ich blind zur Welt gekommen war. War es nicht grausam? Ich hatte, wie man gemeinhin sagt, das Licht der Welt erblickt, aber tatsächlich hatte ich am 25. September jenes Jahres nicht das Licht der Welt erblickt, denn ich war blind. Meine Mutter überlegte, was sie falsch gemacht haben könnte, sie suchte nach einer Schuld in ihrem Leben oder ihrem Verhalten, die meine Blindheit ursächlich bedingt haben könnte. Desgleichen mein Vater, der, wie mir meine Mutter einmal mitteilte, lange Zeit sich in Grübeleien verlor, weil er meine Erblindung für eine Strafe hielt, die statt ihn mich getroffen hatte. Aber da war keine Strafe und kein Vergehen. Keiner konnte den Grund meiner Erblindung nennen, auch die Ärzte nicht. Ich war blind, das war alles. Und da ich nichts anderes kannte als meine Blindheit, richtete ich mich in meiner Blindheit ein. Ich lebte wie fast alle, nur daß ich ohne Augenlicht war. Ich ging zur Schule, ich machte Prüfungen, ich arbeitete halbtags, ich verliebte mich. Wenn ich gefragt wurde, wann ich selbst zum erstenmal um meine Blindheit gewußt hatte, dann erzählte ich die folgende Geschichte: Es war im Alter von vier oder auch fünf Jahren gewesen. Ein Spielkamerad, mit dem ich draußen spielte, sagte zu mir: Schau, wie schwarz der Himmel ist, bald gibt es ein Gewitter. Es war die unbedachte Äußerung eines Fünfjährigen. Aber von diesem Augenblick an wußte ich. Es hatte sicherlich bereits andere Gelegenheiten gegeben, die mich ebenso mit meiner Blindheit konfrontierten, aber diese Gelegenheiten waren spurlos an mir vorübergegangen, sie hatten mich nicht geändert. Nach dem Ausruf meines Spielkameraden jedoch begann eine Verwandlung. Es war ein Zwiespalt, der begann. Ich wußte, ich bin anders. Die anderen sahen den Himmel und die Farben und die Menschen und die Dinge. Ich aber war blind. Doch ich wollte kein Außenseiter sein. War ich nicht ein Mensch wie jeder andere auch? Was verschlug es, blind geboren zu sein? Lag es nicht an mir, aus der Blindheit etwas zu machen? Ich wollte dazugehören, auf jeden Fall, darum begannen ab nun meine Anstrengungen, wie alle zu sein, während gleichzeitig tief innen eine überaus sanfte, unauslöschliche Stimme mich anlächelte und mich anschaute, und ich vermochte, obgleich ich blind war, diese Stimme oder auch diesen Mund zu sehen, und ich hörte, wie sie zu mir von meiner Blindheit sprach und von meinem Leben und meinen Wünschen und meinem Verlangen, und jedesmal, wenn diese Stimme in gleichsam schmerzender, unendlicher Güte du zu mir sagte oder von meiner Blindheit sprach, so nicht, um mich in der Dunkelheit einzuschließen, sondern im Gegenteil, um meine Wahrheit zu wollen. Und ich? Ich verstand nicht. Nicht, als ob ich diese Stimme nicht gewollt hätte. Es war nicht so, als ob ich einen aktiven Widerstand gegen diese Stimme geleistet hätte. Es war anders. Indem ich das Andere wollte, die Anerkennung, die Zugehörigkeit, das Dazugehören um jeden Preis, bezahlte ich, nicht-wissend wissend, den Preis, daß die Stimme zunehmend leiser wurde, glimmend, beinahe unhörbar. Es war ein Prozeß wie so viele andere, ein Prozeß, von dem man einst sagen würde, daß das Leben halt so ist, daß es Zwänge gibt und Konstellationen, die einem keine Wahl lassen, daß man gebunden ist, daß das Leben im letzten Last ist, die es zu tragen gilt, auch wenn die Last einem den Schweiß in die Augen treibt und der Schweiß den Blick trübt. Das ist das Leben, sagten meine Bekannten. Das ist das Leben, sagte ich und versuchte, mein Leben zu meistern. Ich bekam Auszeichnungen von der Handelskammer, in der Zeitung stand ein entsprechender Bericht, ich ging aus, sonntags ging ich zur Kirche, werktags machte ich Späße, ich bettelte um Zuneigung, ich hatte es geschafft. Ich war wie alle. Verstehen Sie?«
Während seiner Rede hatte ich ihn angeschaut. Er redete sachlich, seine Sätze waren wie Wasser, sehr durchsichtig und klar. Bei der letzten Frage machte er eine kleine Pause und ein Lächeln, kaum merklich, war um seine Lippen. Ich schaute in seine Augen. Die Farbe war braun, ein dunkles Braun, mich erinnerte sie an das dunkle, glänzende Fell eines edlen Tieres. Er schenkte mir nach: »Darf ich?« Ich hielt ihm meine Tasse hin. An der Haustür klingelte es. Er ging eine Weile nach draußen, ich hörte seine Stimme im Vorhaus, einzelne deutliche Worte, dann wieder undeutliche Wortstücke. Als er in das Zimmer zurückkam, setzte er seine Rede, so als sei sie nie unterbrochen worden, fort, in einer Haltung, die ich nicht anders denn als Treue bezeichnen könnte, als eine Art sachlicher Treue, und dieser Gedanke löste gleichsam als Kettenreaktion das Wort Treuhänder in mir aus, und dieser Name schien mir der geeignete für mein Gegenüber: Er war ein Treuhänder, der mir jetzt, in dieser Stunde, etwas, wie es heißt, zu treuen Händen übermittelte, und meine Aufgabe bestand lediglich darin, zuzuhören, dazusein, in Empfang zu nehmen, denn der Treuhänder war mein Nachbar.
(Fortsetzung folgt)
Freitag, 17. August 2018
Die Zauberflöte
(Für U. und B.)
Es gibt ein berühmtes s/w-Photo von Werner Bischof, welches zu den Klassikern der modernen Photographie gehört. Zurecht. Denn es vereint die Spannungen des Lebens, aber es führt diese Spannungen nicht in das Zerreißen, sondern vereint sie im harmonischen Miteinander und läßt so die Melodie des Lebens erklingen.
Eine Junge geht in den Anden. Er ist mitten in der Bewegung. Obgleich er in den Bergen geht, auf steinigem Weg, ist sein Schuhwerk, angesichts dieses Untergrunds, von seltsam zarter Beschaffenheit. Und die nackten Füße und die ungeschützte Haut der Beine scheinen dem erdigen Untergrund denkbar unangemessen.
Unangemessen auch hinsichtlich der Tatsache, daß der Knabe offensichtlich keinen harmlosen Pfad geht, ja noch nicht einmal einen gekennzeichneten Pfad, sondern vielmehr ein wegloses Stück Wegs, der zudem an einem Abgrund entlangführt.
Und um die Herausforderung des Gehers noch zu erhöhen, trägt dieser Wanderer, der da so zügig ausschreitet und der kein Alpinist ist, sondern, wie gesagt, ein Knabe in den peruanischen Anden, eine schwere Last auf dem Rücken.
Also alles in allem, so könnte man nach dieser unvollständigen Bildbeschreibung meinen, ein schweres Bild. Eine niederdrückende Fotografie.
Aber dem ist nicht so.
Über dem ganzen Lichtbild – und dies ist ja die Übersetzung des vom Griechischen übernommenen Lehnworts Photographie – liegt eine gleichsam schwerelose Leichtigkeit. Der Junge ist behütet. Tatsächlich behütet. Ein himmlischer Schutz läßt ihn trotz seiner Lasten unbeschwert vorwärtsgehen. Kein Zögern. Kein Zaudern. Stattdessen die selbstverständliche Konzentration und die sichere, traumwandlerische Sicherheit des Kindes, welches wissend-nichtwissend um seine Geborgenheit weiß.
Und über allem liegt die stille, wunderbare Musik der Zauberflöte (wer Ohren hat zu hören, der höre). Nun komm und spiel die Flöte an! Sie leite uns auf großer Bahn! Wir wandeln durch des Tones Macht froh durch des Todes düstre Nacht.
Der Photograph dieses Lichtbildes – auch dies gehört zu der unauslotbaren Rätselhaftigkeit des Lebens - ist 1954 in den peruanischen Anden tödlich verunglückt, während sein Lichtbild weiterhin leuchtet. Und die Musik noch immer erklingt. Sehr still. Aber doch.
Freitag, 10. August 2018
Gloria Dei III
»Schön ist, was wir sehen,
schöner, was wir wissen,
weitaus am schönsten ist, was wir nicht fassen.«
schöner, was wir wissen,
weitaus am schönsten ist, was wir nicht fassen.«
Sel. Niels Stensen
Universalgelehrter — Bischof — † 25. Nov. 1686
Universalgelehrter — Bischof — † 25. Nov. 1686
Grafik:
Photo by Rachel Moore on Unsplash
Samstag, 4. August 2018
Gloria Dei II
»Die Ros' ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.«
Angelus Silesius
Grafik: Photo by Annie Spratt on Unsplash
Dienstag, 24. Juli 2018
Gloria Dei I
»In ihm war nicht die zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln und erheben, der Urwille des großen Künstlers, mit Gott zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach seinem eigenen Dünken zu erschaffen.«Stefan Zweig mag Gutes geschrieben haben, aber hier (in seinem Essay zu Charles Dickens) irrt er sich gewaltig. Denn es verhält sich genau umgekehrt.
Der große Künstler will Gottes Werk nicht verwerfen, sondern bejahen. Die große Kunst ist Einverständnis und also Anbetung. Sie protestiert nicht gegen die Schöpfung, sondern kommt dahin (meist nach Schmerzen, Prüfungen und notwendigen Enttäuschungen und Erschütterungen), ihr amen zu sprechen: So sei es!
Man höre dazu etwa die Matthäuspassion – die Matthäuspassion eines Zeitgenossen wohlgemerkt, eines Komponisten aus dem 21. Jahrhundert. Gemeint ist Metropolit Hilarion Alfeyev, seines Zeichens hochrangiger orthodoxer Kirchenmann, der nach seinem Eintritt ins Mönchsleben zwanzig Jahre lang das Komponieren ruhen läßt, bis dann, eines Sommers, in einem Gewitter der Inspiration, drei Werke entstehen, darunter besagte Matthäuspassion.
Hier spricht einer der großen Künstler unserer Tage. Wer das Werk hört, ist danach nicht mehr derselbe. Das ist bereits ein Signum großer Kunst: Sie verändert den Aufnehmenden. Aber nicht beliebig, sondern richtungsweisend, nach oben hin.
Dies gelingt großer Kunst nicht zuletzt deswegen, weil sie das Vergangene, das kostbar Überlieferte, nicht hochmütig über Bord wirft, sondern dankbar sich aneignet, um sodann mit dem Schatz der Tradition weiterzubauen an der Verherrlichung des Schöpfers aller Dinge, in dessen demütigen Dienst der große Künstler sich stellt.
Dabei wird nichts unterschlagen. Weder der Schmerz, noch die Tränen, noch der Verrat, noch die Abgründigkeit des Menschen. Doch die große Kunst versteht es, trotz aller Mißbräuche des Menschen und des eigenen abgründigen Existierens über dem Nichts nicht zu verzweifeln an der conditio humana, sondern tiefer zu schauen, höher zu schauen, und noch im Schrecklichen die geheime Anwesenheit des Gekreuzigten wahrzunehmen.
Große Kunst, dies wird jeder wache Hörer, Leser und Betrachter kennen, tröstet. Es ist der Trost der Wüstenwanderer, der Exilierten. Der Trost derjenigen, die um den status viatoris des Menschen wissen, aber zugleich um das Ziel der rechten Wanderschaft. Und die Kunst reicht den Mitwanderern den Becher des klaren Trunks der Wahrheit, in leuchtenden Farben, in unversiegbaren Tönen, in Worten, die zum Herzen sprechen – cor ad cor loquitur.
Und vielleicht ist es heute zumal dem orthodoxen Künstler gegeben, diesen Trost wirkmächtig aufleben zu lassen. Denn zur orthodoxen Lebendigkeit gehört das feste Verankertsein in der triumphierenden Verklärung und Auferstehung Christi, ebenso wie das unverbrüchliche Gehaltensein in der Göttlichen Liturgie. Während der Westen vorzugsweise im Kreuz das Wasserzeichen der Schöpfung wahrnimmt, schaut der Osten sieggewiß die Verherrlichung des gekreuzigten Gesalbten und stimmt ein in den Lobpreis der himmlischen Ecclesia.
Bischof Hilarion ist zu danken. Seine Matthäuspassion ist reiner Lobpreis, Verherrlichung Gottes, daher gehört sie nicht länger ihm. Wie jede große Kunst enteignet das Werk den Schaffenden, der wortwörtlich hinter dem Werk verschwindet. Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib die Ehre (Psalm 115,1).
Wir gratulieren, aus ganzem Herzen, Metropolit Hilarion zu seinem heutigen Geburtstag!
Freitag, 20. Juli 2018
Das Notwendige
»Man muß nach dem inneren Leben trachten. Wenn man dies nicht ganz macht, macht man nichts ganz.«
Hl. Vinzenz von Paul
Grafik:
Andrea Mantegna, Madonna mit Kind. Wikicommons
Freitag, 13. Juli 2018
Der Elefant im Raum
Ein überaus wißbegieriger und neugieriger Mann geht ins Museum. Er notiert und notiert, was ihm so alles auffällt. All die putzigen, niedlichen Dinge, die ihm gefallen. Daraufhin verläßt der Mann das Museum. Eines hat unser wißbegieriger Mann freilich nicht aufgeschrieben, es ist ihm glattwegs entgangen – daß im Museum ein Elefant war.
Die Geschichte geht zurück auf den russischen Dichter Krylov, der in einer seiner Fabeln diesen Mann schildert. Seitdem ist der »Elefant im Raum«, zumal in den angelsächsischen Ländern, sprichwörtlich geworden.
Jetzt hat eine berühmte Kanadierin eben dieses geflügelte Wort in einer höchst außergewöhnlichen Situation in den Mund genommen.
Die Rede ist von der 44jährigen Mary Wagner. International bekannt wurde Wagner durch die von ihr initiierten und mittlerweile von anderen aufgegriffenen sogenannten red-roses-Aktionen. Was das ist?
Wagner geht in Abtreibungsstätten und verteilt dort an Frauen, die im Wartezimmer auf die Abtreibung warten, rote Rosen und bittet die Frauen, ja zu ihrem Kind zu sagen und gemeinsam mit ihr den Tötungsort zu verlassen.
Dann geschieht stets das Gleiche. Mary Wagner wird von herbeigerufenen Polizisten abtransportiert und vor Gericht gestellt. Inzwischen hat Mary Wagner etliche Gefängnisstrafen abgesessen.
In ihrem letzten Prozeß, in diesem Monat Juli, wurde nun Wagner erneut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Den zuständigen Richter bat sie vor der Urteilsverkündigung, nachzudenken über »den anderen Elefanten im Raum – jenes kleine, ungeborene Kind, welches laut kanadischem Recht kein menschliches Wesen ist.«
Tja, wie kommt es, daß das Alleroffensichtlichste nicht wahrgenommen wird?
Wenn man in Österreich bleibt: Wie kommt es, daß, wiewohl Abtreibung seit Jahrzehnten praktiziert wird und also Tausende und Abertausende von Österreicherinnen und Österreichern betroffen sind, das Thema »Abtreibung« weiterhin der Elefant im Raum ist?
Die eine Antwort lautet: Weil man das Schreckliche nicht wahrhaben will. Es ist wie bei kleinen Kindern. Diese machen in ihren Spielen die Augen zu, verdecken das Gesicht mit den Händen und wähnen, nicht mehr dazusein, unsichtbar zu sein.
Die Erwachsenen wählen die Tarnkappe des Verschweigens, im Wahn, der Horror sei damit verschwunden. Aber nichts ist verschwunden. Auch der Schmerz der Abtreibung verschwindet nicht dadurch, daß man das Verschwinden wünscht. Und auch Sünden – und Abtreibung ist schwere Sünde – lösen sich nicht in Luft auf, dadurch daß man sie verdrängt. Der Elefant ist weiterhin da. Die Wahrheit ist weiterhin da.
Und nicht nur das. Der Elefant, den man nicht wahrnehmen will, wird nicht kleiner, sondern größer. Und irgendwann wird er zu trampeln beginnen. In der Seele von Einzelnen wie in gesellschaftlichen Organismen. Das wird dann keinesfalls museal oder gar gemütlich sein. Und man kann nur hoffen, daß es dann Lebensretter gibt, die zur Stelle sind.
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Freitag, 6. Juli 2018
Ach, ich fühl’s
Neulich in der Oper. Parsifal.
Neben mir, wie sich herausstellt, eine begeisterte Wagnerianerin. In der Pause sprechen wir miteinander. Ich frage sie, was denn die Botschaft Wagners sei. Da sei keine Botschaft, so sie.
Etwas später kommt sie auf meine Frage zurück. Es würde nicht um Botschaft gehen, sondern um Gefühle. Wagners Musik spreche ihre Gefühle an. Sie höre die Musik und sei sogleich wieder am Wickel. Das könne man nicht erklären, das sei halt so.
Ja, so ist es wohl. Wagner spricht die Gefühle an. Und mehr noch: Wagner hitzt die Gefühle an. Man höre etwa Wotans Abschied am Ende der Walküre. Brünhilde, die Tochter, hat das väterliche Wort gebrochen. Gezwungenermaßen muß Wotan sie bestrafen. Aber zuvor wird der Abschied inszeniert.
Doch im Grunde ist es kein Abschied, sondern der Rausch des Abschieds. Die Droge des Abschieds. Die Intoxikation des Abschieds.
Es hängt mit dieser Gefühlsorgiastik zusammen, daß es die Wagnerianer gibt, jedoch keine Mozartianer. Denn Wagners rauschhafte Musik produziert den narkotisierten Fan, der schließlich nicht in die Oper geht, sondern nach Bayreuth pilgert. Tertium non datur.
Um die Differenz zu einer Musik zu erfassen, die bei aller Eindringlichkeit des Ausdrucks sich die Anästhisierung des Zuhörers nicht gestattet, höre man einen anderen Abschied – Paminas Arie Ach, ich fühl’s.
Der Text könnte dramatischer nicht sein:
Während Wagner den Hörer überwältigt, eröffnet Mozart dem Hörer den Raum der Freiheit. Da ist kein herrisches Einschließen in den Gefühlsuntergang, kein Verlust der klaren Augen. Vielmehr glückt es Mozart im tiefsten Schmerz wie in der höchsten Schönheit den Raum zu öffnen in die Transzendenz hin, denn eben dorthin, in den Raum des Unverfügbaren, verweist jede Empfindung, die mehr ist als Exzess und verführerischer Sog.
Nochmals anders gesagt: Wagner führt ins Staunen über die geniale Raffinesse der musikalischen Mittel. Das ist stupend. Mozart führt gleichfalls ins Staunen – in das Staunen des Mitleids. Pamina singt, und da ihr interesseloser Gesang es nicht auf Überwältigung abgesehen hat, vermag er die tiefen, vielleicht verschütteten Saiten in der eigenen Brust zum Erklingen zu bringen, so daß sich Zwei begegnen – Pamina und das Du des Hörers. Während im Wagnerrausch das Nirwana lockt, in dem schließlich unterschiedslos alle versinken: Wotan, Brünhilde, Isolde, der Holländer, der Zuhörer e tutte quante.
Aber genug der Worte. Ecco la musica:
Neben mir, wie sich herausstellt, eine begeisterte Wagnerianerin. In der Pause sprechen wir miteinander. Ich frage sie, was denn die Botschaft Wagners sei. Da sei keine Botschaft, so sie.
Etwas später kommt sie auf meine Frage zurück. Es würde nicht um Botschaft gehen, sondern um Gefühle. Wagners Musik spreche ihre Gefühle an. Sie höre die Musik und sei sogleich wieder am Wickel. Das könne man nicht erklären, das sei halt so.
Ja, so ist es wohl. Wagner spricht die Gefühle an. Und mehr noch: Wagner hitzt die Gefühle an. Man höre etwa Wotans Abschied am Ende der Walküre. Brünhilde, die Tochter, hat das väterliche Wort gebrochen. Gezwungenermaßen muß Wotan sie bestrafen. Aber zuvor wird der Abschied inszeniert.
Doch im Grunde ist es kein Abschied, sondern der Rausch des Abschieds. Die Droge des Abschieds. Die Intoxikation des Abschieds.
Es hängt mit dieser Gefühlsorgiastik zusammen, daß es die Wagnerianer gibt, jedoch keine Mozartianer. Denn Wagners rauschhafte Musik produziert den narkotisierten Fan, der schließlich nicht in die Oper geht, sondern nach Bayreuth pilgert. Tertium non datur.
Um die Differenz zu einer Musik zu erfassen, die bei aller Eindringlichkeit des Ausdrucks sich die Anästhisierung des Zuhörers nicht gestattet, höre man einen anderen Abschied – Paminas Arie Ach, ich fühl’s.
Der Text könnte dramatischer nicht sein:
Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden,Pamina besingt den herzzerreißenden Schmerz der empfundenen Trennung, des Verlusts, der Sehnsucht, der verwundeten Liebe. Auch hier das Gefühl: Ach, ich fühl’s. Nur was macht Mozart?
Ewig hin der Liebe Glück!
Nimmer kommt ihr, Wonnestunden,
Meinem Herzen mehr zurück!
Sieh, Tamino, diese Tränen
Fließen, Trauter, dir allein.
Fühlst du nicht der Liebe Sehnen,
So wird Ruh im Tode sein!
Während Wagner den Hörer überwältigt, eröffnet Mozart dem Hörer den Raum der Freiheit. Da ist kein herrisches Einschließen in den Gefühlsuntergang, kein Verlust der klaren Augen. Vielmehr glückt es Mozart im tiefsten Schmerz wie in der höchsten Schönheit den Raum zu öffnen in die Transzendenz hin, denn eben dorthin, in den Raum des Unverfügbaren, verweist jede Empfindung, die mehr ist als Exzess und verführerischer Sog.
Nochmals anders gesagt: Wagner führt ins Staunen über die geniale Raffinesse der musikalischen Mittel. Das ist stupend. Mozart führt gleichfalls ins Staunen – in das Staunen des Mitleids. Pamina singt, und da ihr interesseloser Gesang es nicht auf Überwältigung abgesehen hat, vermag er die tiefen, vielleicht verschütteten Saiten in der eigenen Brust zum Erklingen zu bringen, so daß sich Zwei begegnen – Pamina und das Du des Hörers. Während im Wagnerrausch das Nirwana lockt, in dem schließlich unterschiedslos alle versinken: Wotan, Brünhilde, Isolde, der Holländer, der Zuhörer e tutte quante.
Aber genug der Worte. Ecco la musica:
Freitag, 29. Juni 2018
Die Schlüssel. Zum Leben
Auf die berühmte Frage Jesu an Seine Jünger: Ihr aber, für wen haltet ihr mich?, antwortet Simon Petrus: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! (Mt 16, 15f)
Was hätten wir geantwortet? Was antworten wir? Heute?
Vermutlich hat man dieses Evangelium schon oft gehört. Und vermutlich hat man oft das wesentliche Adjektiv in der Antwort des Simon Petrus überhört: lebendig.
Hätte Simon Petrus geantwortet: Du bist der Messias, der Sohn Gottes, hätte diese Antwort auch gestimmt. Aber der erste Apostel bekennt mehr, er lobpreist: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!
Der Gott, den Petrus bekennt, ist der lebendige Gott. Er ist nicht der Gott der Toten, nicht der museale Gott und auch nicht der kulturell gezähmte Gott, sondern der durch und durch lebendige Gott.
Guardini hat diesem Gott ein schlichtes Buch gewidmet, dem er den Titel gab: Vom lebendigen Gott. Guardini wußte, daß diese Kennzeichnung ins Herz der Dinge führt. Denn letztlich münden alle unsere theologischen Überlegungen in dieses Prädikat: Daß unser Gott lebendig ist.
Und wenn der Mensch sein Leben ernsthaft betrachtet, wird er feststellen, daß die fundamentale Frage, die seinem Leben eingeschrieben ist, genau diejenige ist, nämlich ob er sein Leben lebt oder nicht lebt. Die Frage nach Leben und Tod ist keine dramatisch ferne, sondern die eigentliche, die alltägliche. Manchmal kann man sie als Graffiti gesprüht an einer Häuserwand finden: Heute schon gelebt? Was sich witzig anhören mag, ist tatsächlich die Frage der Fragen.
Wie aber recht leben?
Die Bibel und mit ihr die katholische Kirche gibt die Antwort: Wer leben will, wahrhaft leben, muß sich an den halten, der DAS LEBEN ist, an Jesus Christus. Nur Ihm, der von sich selbst sagt: Ich bin das Leben (Joh 14,6), ist die Vollmacht eigen, uns zum Leben zu bringen und uns den Weg zum erfüllten Leben zu öffnen. Das heißt zugleich, daß jeder, der sich Christus anheimgibt, von Ihm über kurz oder lang in die schärfste Konfrontation gestellt wird, die da lautet: Mensch, wie hältst du es mit dem Leben?
Das ist zuvörderst keine allgemein unverbindliche Frage, sondern die existentielle: Mensch, wie hältst du es mit deinem Leben? Lebst du oder stirbst du?
Die Möglichkeiten zu sterben, sind heute raffinierter denn je, denn die Götzen sind raffinierter denn je. Wer weiß etwa nicht, daß man heutzutage locker drei Stunden im Internet verbringen kann, dabei einen interessanten Artikel nach dem anderen konsumierend, während man in Wahrheit drei virtuelle Stunden damit verbracht hat, um vor dem Leben zu fliehen?
Vielleicht war die Versuchung des Menschen, den Tod zu wählen, und das heißt den Tod in den unzähligen modernen Masken des Todes zu wählen, nie so massiv und verführerisch wie heute. In dieser kollektiven Anhänglichkeit an die Kultur des Todes (so nannte es Papst Johannes Paul II.) wundert es nicht, daß die nekrophile Sucht bisweilen monströs sichtbar wird.
So wurde etwa im vergangenen Mai bei einer Auktion im New Yorker Sotheby‘s ein neuer Rekordpreis für ein modernes Gemälde erzielt. Der Käufer, ein japanischer Geschäftsmann, legte 110,5 Millionen Dollar hin für das begehrte Objekt. Und was ist auf dem Gemälde zu sehen? - Ein Totenkopf. Der Maler des Gemäldes ist mit 27 Jahren durch eine Drogenüberdosis ums Leben gekommen.
Halten wir nach einem Bild der Kultur des Lebens Ausschau, so könnten wir uns an die Schüssel des heiligen Petrus halten.
Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! So die Antwort des Simon Petrus. Und aus dem Munde Jesu vernimmt der erste Apostel die Worte:
Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein (Mt 16,19).
Die Schlüssel sind zum ikonographischen Symbol des Petrus‘ geworden. Schlüssel schließen, Schlüssel öffnen. Die Schlüssel des Petrus, des Stellvertreters Christi, sind Lebensschlüssel. Das läßt sich am Sakrament der Beichte, dort, wo gebunden beziehungsweise gelöst wird, bestens aufzeigen.
Sünden führen zum Tod, denn sie entfernen vom lebendigen Gott. In der Beichte werden die Sündenverstrickungen gelöst, das Tor zum Leben wird neuerlich geöffnet. Wer dagegen an seinen Sünden eigenwillig festhält, der bleibt gebunden, er verzichtet auf das lösende Wort der Absolution, er wählt die verschlossene Kultur des Todes.
Die Schlüssel des Petrus sind Schlüssel zum Leben. Wie könnte es auch anders sein, schließlich ist er der erste der Apostel, der das Geheimnis des lebendigen Gottes öffentlich bekannt hat.
Grafik: Münster, Überwasserkirche / cathédrale Notre-Dame de Paris / wikicommons
Freitag, 22. Juni 2018
Zeugen
Eigentlich ist es einfach. Das christliche Leben lernt man durch die Zeugen. Denn was macht der Zeuge? - Genau. Er zeugt. Er zeugt Nachkommen und er be-zeugt die Wahrheit. Der erste Zeuge, wie könnte es anders sein, ist Christus, Er ist, so nennt Ihn das letzte Buch der Bibel, der treue Zeuge (Offb 1,5).
Der 2016 im Alter von 87 Jahren in den Kardinalsrang erhobene Priester Ernest Simoni ist ein Zeuge in der Nachfolge Christi. 27 Jahre verbrachte er als Gefolterter in den kommunistischen Lagern Albaniens. 27 Jahre der Erniedrigung, der Torturen, der schrecklichen Schmähungen.
Am 21. Juni 2018 hat Ernest Kardinal Simoni im Stift Heiligenkreuz den erstmals verliehenen Thomas-Morus-Preis, gestiftet vom Alten Orden vom St. Georg, erhalten.
Da steht er nun: Ein kleiner Mann, mit unbestechlichen Augen, der zu Versöhnung und mehr Glauben und mehr Liebe aufruft. Ein kleiner Mann, der – stellvertretend für die ungezählten Toten des albanischen Unrechtsregimes – mit seiner Existenz bezeugt, daß die Liebe immer siegt.
Und den Kardinal wahrnehmend, begreift man besser das christliche Mysterium, welches im Geheimnis der Weihnacht seinen sichtbaren Weg unter uns offenbart.
Es ist die ewige Geschichte der Geburt der Liebe unter der Verfolgung. Die Namen der Verfolger wechseln. Herodes, Hoxha. Die ewige Geschichte der Wahrheit bleibt. Und der Christ ist aufgerufen, sich hineinnehmen zu lassen in die Geschichte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Gewiß zu sein, daß das Kreuz nur ein anderer Name für Ewigkeit ist. Daß der Glaube in der Liebe wirksam ist und daß die Liebe stets stärker ist. In den Worten des heiligen Apostels und Evangelisten Johannes: Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube (1 Joh 5,4).
Und man versteht auch dies: Der Christ braucht keine Angst zu haben. Denn wer auf der Seite Christi steht, steht auf der Seite des Siegers, noch dann, wenn die Herrscher den Christen in die Abwasserkloaken verbannen – so geschehen bei dem Priester Simoni, der, nach etlichen Jahren der Folterung und Inhaftierung, schließlich in den unterirdischen Kloaken arbeiten muß, weil das Regime derart wähnt, den Priester, der von seiner Seelsorge nicht abläßt, endlich zu zerbrechen.
Ein kleiner Mann. Ein kleiner Mann, der den christlichen Preis bezahlt hat. Der seine Feinde nie gehaßt hat. Der evangeliumsgemäß sagt: Es wird dem Knecht nicht anders ergehen als dem Meister. Aber der weiß, daß das Weizenkorn, wenn es stirbt, reiche Frucht bringt.
Die Zeugen sind nicht tot, sie leben mitten unter uns. Sie sind diejenigen, die sich, unter Schmerzen und Schreien, wie es bei Geburten ist, vom Gott der Liebe gebären lassen in die Welt hinein, damit die Welt erkennt, wer Gott ist und wer der Mensch. Sie gehören zu denjenigen, die – wie damals, zu Bethlehem – als Hirten zur Krippe gehen und in dem schwachen Kind die verborgene, verrückte, allmächtige Liebe Gottes zum Menschen wahrnehmen und die an diese Macht der Liebe glauben. Die dem Licht der Weihnacht vertrauen, welches bekanntlich in der Finsternis leuchtet.
Und die das Licht nicht für sich behalten, sondern, da Zeugen ein Tu-Wort ist, es weiterreichen.
An uns.
Foto: S.E. Ernest Kardinal Simoni mit dem Apostolischen Nuntius in Österreich, S.E. Dr. Peter Stephan Zurbriggen. © Alter Orden vom St. Georg