Freitag, 28. September 2018
Leben oder Tod
Wer auch nur ein bisserl die sogenannten Hearings im amerikanischen Senat verfolgt, die seit Wochen die Nominierung des Juristen Brett Kavanaugh zum Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zum Thema haben, kann wie in einem Intensivkurs lernen, welches Thema Top 1 weltweit ist – es ist das Thema Leben und Lebensschutz, mit anderen Worten die pro-life-Agenda.
Und es gibt zwei Lager, die sich gegenüberstehen, und diese beiden Lager hat Johannes Paul II. für alle Zeiten gültig benannt: Das eine Lager ist die Kultur des Lebens, das andere Lager ist die Kultur des Todes.
Die letzten Wochen der Hearings zeigen nun eines in grasser Deutlichkeit: Die Verbissenheit und – man kann es nicht anders sagen – der diabolische Furor der Anhänger der Kultur des Todes, den Tod mit welchen Mitteln auch immer zu lancieren. Und dies ist keine metaphorische oder gar blumige Rede, sondern die nackte Realität.
Was fürchten die Apologeten der Kultur des Todes? Sie fürchten, daß dann, wenn Brett Kavanaugh tatsächlich als Richter des OGH der Vereinigten Staaten bestätigt würde, diese richterliche Erstinstanz nach Jahrzehnten zum ersten Mal mit Höchstrichtern besetzt wäre, die insgesamt eine pro-life-Mehrheit bildeten. Damit aber wäre die längst überfällige Revision des infamen Roe-versus-Wade-Urteils, welches 1973 die Abtreibung in den USA straffrei stellte, in Aussicht.
Nun verdienen jedoch, und das ist kein Geheimnis, etliche Firmen durch die Inkrafttretung dieses grundumstürzenden Urteils seit anno 73 sich eine goldene Nase. Zum Beispiel: Planned Parenthood of America, die Tochterfirma des internationalen Abtreibungskonzerns International Planned Parenthood Federation, macht jedes Jahr Millionen Dollar blutigen Umsatz durch die Abtreibung, sprich die Tötung von unschuldigen ungeborenen Kindern.
Ein einfaches Rechenexempel: 2009 führte PP laut eigenen Angaben 332,278 Abtreibungen durch. Durchschnittskosten pro Abtreibung: $468 (laut Guttmacher Institut). Totaleinkommen aufgrund von Abtreibungen: $155,506,104. In Worten: 155 Millionen. Totaleinkommen der PP Einrichtungen: $404,900,000.
Und wenn es darum geht, das Tötungsgeschäft weiter rollen zu lassen, dann sind den Abtreibungsbefürworten alle Mittel recht, auch die willentliche Vernichtung eines bislang unbescholtenen Kandidaten.
Was Kavanaugh in den Hearings über sich ergehen lassen muß, ist mit einem Wort ungeheuerlich. Das Neueste: Plötzlich tritt eine sogenannte Belastungszeugin auf und beschuldigt ihn der sexuellen Übergriffigkeit, die angeblich in seiner Gymnasialzeit stattgefunden habe. Sogenannte Zeugen, die die Anklägerin angibt, wissen von nichts. Nur, seit dieser Anklage geht Kavanaugh mitsamt seiner Familie durch die sprichwörtliche Hölle. Seine beiden Töchter bekommen online Todesdrohungen, er selbst wird plötzlich ohne jede Evidenz als Täter portraitiert, die liberalen Medien fallen über ihn her, so, als stünde das Urteil seit langem fest.
Und genau so ist: Das Urteil steht schon längst fest. Kavanaugh muß weg, denn es gilt um jeden Preis, die Agenda des Todes zu prolongieren. Wohlgemerkt: Um jeden Preis. Und wenn dabei Kavanaugh und seine Familie unter die Räder kommen, dann ist dies eine quantité négligeable, nach der kein liberaler Hahn kräht.
Und um das Maß voll zu machen, hat eine Untersuchung des Media Research Center gerade eben ergeben, daß die Abtreibungsgruppierungen, die maßgeblich hinter den Attacken gegen den Nominierten Kavanaugh stehen, millionenschwer von jemandem finanziert werden, der stets seine Finger im Spiel hat, wo die Agenda des Todes zur Debatte steht. Gemeint ist der Multimilliardär George Soros. Er unterstützt mit sage und schreibe 246 Millionen den Anti-Kavanaugh-Protest.
Ein Horrorfilm könnte nicht schauriger sein. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, kann im Herbst 2018 in aller nötigen Klarheit wahrnehmen, in welchem Kampf wir tatsächlich stehen. Lebensschützer wissen es eh. Es geht um nichts weniger als um Alles - um Leben oder Tod.
Grafik: Photo by Michal Bar Haim on Unsplash
Freitag, 21. September 2018
Homo patiens
Ihre Bühnenpräsenz hat man gerühmt. Ihre unvergleichliche Jahrhundertstimme. Ihre darstellerische Kraft und Ausstrahlung. Ihr Gespür für kleinste Nuancen und musikalische Schattierungen.
Ja, das stimmt alles.
Aber vielleicht ist das Eindrücklichste, was Maria Callas verkörperte, das, was man gerne vergessen will: Daß der Mensch ein Leidender ist - homo patiens.
Man höre sich etwa nur die Eingangsarie der Lucia di Lammermoor an, so, wie die Callas sie singt. Die Arie gehört nicht zu den herausragenden der Opernliteratur, auch nicht zu den Bravourstücken der Lucia. Da wird man eher die berühmte Wahnsinnsarie bemühen.
Aber das macht nichts. Callas gelingt es, vom ersten Takt an, das Leiden hörbar zu machen. Und diese Gabe durchzieht ihre Diskographie. Und diese Gabe ist kein Konstrukt, über welches sich akademisch diskutieren ließe. Zu dieser Gabe gehört geradezu die granitene Einfachheit. Die Callas singt, und der Zuhörer weiß: So ist es. Das Leiden entzieht sich der Interpretation. Callas stellt das Faktum dar, das Unumstößliche. Der Mensch ist ein Leidender. Nicht weil die Callas es gerne so hätte, sondern weil es so ist.
Visconti, der Filmregisseur, der die Callas bewunderte und für sie zum Opernregisseur wurde, erzählt in einem Interview folgende bezeichnende Geschichte. Er ist in der Opernloge und hört wie hypnotisiert der Callas zu. Irgendwann registriert er, daß noch jemand in der Loge ist, und er dreht sich nach dem fremden Gast um. Es ist Elisabeth Schwarzkopf, die berühmte Sopranistin. Und Visconti sieht, wie der bekannten Sängerin die Tränen die Wangen hinunterrinnen.
Daß die Callas auf der Bühne das urmenschliche Faktum der Leidensfähigkeit des homo sapiens hörbar macht, ist ihrem künstlerischen Ethos zu verdanken. Sie wolle, so sagte sie, der Kunst dienen. Und das hieß, sie wollte der Wahrheit des Darzustellenden dienen.
Jenseits der Bühne mochte es sein, daß die Callas in der Welt des Glamours und des Jetsets und der stets extravaganteren Modecreationen sich verzweifelnd verlor. Auf der Bühne fiel dies von ihr ab. Da regierte der unbedingte Wahrheitsanspruch der Kunst. Und dieser Kunst stellte sie sich als Dienerin, nicht als Beherrscherin, zur Verfügung.
»Ein Mensch, der nicht gelitten hat, was weiß der?«, fragt ein deutscher Mystiker.
Maria Callas hat gelitten. Das ist keine Indiskretion, sondern Tatsache. Doch ist es gefährlich, als Leidende die Bühne zu betreten. Die Gefahr besteht darin, das eigene Leiden gleichsam exhibitionistisch zur Schau zu stellen. Eben dieser Klippe entgeht die Callas. Statt exhibitionistisch zu sein, ist sie existentiell. Sie singt ihr Leben, während der Zuhörer wahrnimmt, daß zugleich sein Leben in der Waagschale liegt.
Diese Woche, am 16. September, jährte sich der Todestag der Maria Callas.
Ja, das stimmt alles.
Aber vielleicht ist das Eindrücklichste, was Maria Callas verkörperte, das, was man gerne vergessen will: Daß der Mensch ein Leidender ist - homo patiens.
Man höre sich etwa nur die Eingangsarie der Lucia di Lammermoor an, so, wie die Callas sie singt. Die Arie gehört nicht zu den herausragenden der Opernliteratur, auch nicht zu den Bravourstücken der Lucia. Da wird man eher die berühmte Wahnsinnsarie bemühen.
Aber das macht nichts. Callas gelingt es, vom ersten Takt an, das Leiden hörbar zu machen. Und diese Gabe durchzieht ihre Diskographie. Und diese Gabe ist kein Konstrukt, über welches sich akademisch diskutieren ließe. Zu dieser Gabe gehört geradezu die granitene Einfachheit. Die Callas singt, und der Zuhörer weiß: So ist es. Das Leiden entzieht sich der Interpretation. Callas stellt das Faktum dar, das Unumstößliche. Der Mensch ist ein Leidender. Nicht weil die Callas es gerne so hätte, sondern weil es so ist.
Visconti, der Filmregisseur, der die Callas bewunderte und für sie zum Opernregisseur wurde, erzählt in einem Interview folgende bezeichnende Geschichte. Er ist in der Opernloge und hört wie hypnotisiert der Callas zu. Irgendwann registriert er, daß noch jemand in der Loge ist, und er dreht sich nach dem fremden Gast um. Es ist Elisabeth Schwarzkopf, die berühmte Sopranistin. Und Visconti sieht, wie der bekannten Sängerin die Tränen die Wangen hinunterrinnen.
Daß die Callas auf der Bühne das urmenschliche Faktum der Leidensfähigkeit des homo sapiens hörbar macht, ist ihrem künstlerischen Ethos zu verdanken. Sie wolle, so sagte sie, der Kunst dienen. Und das hieß, sie wollte der Wahrheit des Darzustellenden dienen.
Jenseits der Bühne mochte es sein, daß die Callas in der Welt des Glamours und des Jetsets und der stets extravaganteren Modecreationen sich verzweifelnd verlor. Auf der Bühne fiel dies von ihr ab. Da regierte der unbedingte Wahrheitsanspruch der Kunst. Und dieser Kunst stellte sie sich als Dienerin, nicht als Beherrscherin, zur Verfügung.
»Ein Mensch, der nicht gelitten hat, was weiß der?«, fragt ein deutscher Mystiker.
Maria Callas hat gelitten. Das ist keine Indiskretion, sondern Tatsache. Doch ist es gefährlich, als Leidende die Bühne zu betreten. Die Gefahr besteht darin, das eigene Leiden gleichsam exhibitionistisch zur Schau zu stellen. Eben dieser Klippe entgeht die Callas. Statt exhibitionistisch zu sein, ist sie existentiell. Sie singt ihr Leben, während der Zuhörer wahrnimmt, daß zugleich sein Leben in der Waagschale liegt.
Diese Woche, am 16. September, jährte sich der Todestag der Maria Callas.
Samstag, 15. September 2018
Es gibt
»Es gibt Licht genug für die, welche nichts anderes wollen als sehen,
und Dunkelheit genug für die, welche eine entgegengesetzte Veranlagung haben.«
Blaise Pascal
Grafik: Photo by Janus Y on Unsplash
Freitag, 7. September 2018
Der Nachbar III
Ich erinnerte mich plötzlich. Einmal (wann war es gewesen?) hatte ich ihn im Hohen Dom gesehen. Ich war in den Dom gegangen, weil mich (ähnlich ihm) das Treiben in der Stadt, wo ich zur Buchhandlung war, ermüdet hatte, und der Dom war mir, wie ihm, die Zufluchtsstätte gewesen vor dem Lärm und der Zerstreuung. Ich war hinuntergestiegen in die Krypta des Domes, denn ich wußte, daß dort das Allerheiligste ausgesetzt war. Ich stieg die Stufen hinab, durchquerte einen Raum mit uralten Sarkophagen und betrat schließlich die Anbetungskapelle. Ein zweiter Beter war in der Kapelle, Ich hatte ihn nicht weiter beachtet. Ich kam mit meinen Gedanken und meinen Sorgen und brachte mein Leben dem Herrn. Aber irgendwann wendete ich meinen Blick zur Linken. Vielleicht war es deswegen, weil ich, der ich unruhig war und unfähig, still in meiner Bank zu knien, womöglich davon betroffen war, daß der zweite Beter in der Kapelle in äußerster Bewegungslosigkeit und Stille verharrte. Ich schaute zu ihm hinüber. Erst jetzt erkannte ich, daß der zweite Beter mein Nachbar war. Er bemerkte mich nicht, denn offensichtlich, was auch ein weniger Geschulter leichthin hätte feststellen können, war er versunken in die heilige Anwesenheit, die sich ihm darbot. Es ist nichts Mystisches, dachte ich mir, so erinnere ich mich. Es war, und dies war das Bestürzende für mich, die äußerste Selbstverständlichkeit, die ich erlebte. Die Versenkung des Nachbarn war nicht das Außergewöhnliche, sondern das Gewöhnliche. Er lebte den Alltag, nur das, aber dieser Alltag, hier unten im Steingemäuer der Krypta, verlangte seine ganze Zeugenschaft. Er war nicht abwesend, wie man vielleicht denken könnte, wenn man von Versenkung reden hört, er war vielmehr der wirklich Anwesende in der Kapelle, weil er sich von dem Ersten Anwesenden, dem ausgesetzten Herrn, mit hineinnehmen ließ in die nackte Gegenwart.
»Die Anbetung vollendete mein Sehen«, so er. »Hier erhielt ich meine Sendung. Denn nachdem ich bereits monatelang auf meinem Platz in der Kapelle niedergekniet war, hörte ich eines Tages die Worte: Geh in die Lokale. Ich verstand erst nach und nach. Und ich gehorchte. Hatte ich nicht selbst immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, meine Erfahrung zu bezeugen? Aber hatte ich nicht immer wieder auch die Erfahrung gemacht, daß meine Geschichte verworfen wurde? Einem Verlag, dem ich meine Geschichte unter dem Titel Das Antlitz in einem Manuskript mitgeteilt hatte, schrieb zurück, es sei als Roman zu schlecht erfunden und als Tatsachenbericht zu erfinderisch. Und doch hatte ich zeugen wollen. Aber wie? Die Antwort war einfach, wie letztlich alles sehr einfach ist. Die Sterneckstraße liegt in der Nähe des Bahnhofsgeländes. Dort reiht sich Amüsierlokal an Amüsierlokal, Bierlokal an Bierlokal. Wenn es sehr später Abend wurde, machte ich mich auf den Weg. Ich suchte die Lokale auf, nahm am Tresen oder an einem der Tische Platz und wartete auf das Weitere. Hier, in Räumen, wo der Lärm oft unerträglich war, wo die Luft zum Ersticken war, wo die Räume selbst im Grunde Gefängnisse waren, gab ich Zeugnis. Fremde setzten sich an meinen Tisch und wir kamen ins Gespräch. Andere Fremde luden mich auf ein Bier ein, und wir sprachen miteinander. Es konnte auch sein, daß ich einen ganzen Abend und eine ganze Nacht lang nichts sprach und somit der stille, sehende, unwiderrufliche Zeuge war. Es sind jetzt drei Jahre her, daß ich meine nächtlichen Gänge aufnahm, es begann am 14. September. Der Rhythmus ist unverändert geblieben seitdem. Aus der Anbetung gehe ich in die Dunkelheit. Ich gehe in der Dunkelheit los, ich gehe in die Dunkelheit hinein, und wenn der Morgen anbricht kehre ich in meine Wohnung zurück. Gestern sagte ich einem Dreiundzwanzigjährigen, der sich in dem Tanzlokal, dessen Wände allesamt mit schwarzer Lackfolie ausgekleidet sind, an meinen Tisch setzte: Unsere Heimat ist im Himmel, und der Dreiundzwanzigjährige begann zu weinen.«
Ich habe meinen Nachbarn die folgenden Monate nur selten gesehen, mal bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt, mal im Haus. Wir wechselten jedes Mal ein paar Worte, aber es kam nie zu einem ausführlichen Gespräch. Ich hatte den Eindruck, er versteht mich und ich verstehe ihn. Es war im April des darauffolgenden Jahres (April the cruellest month), einem Karsamstag, als es an meiner Wohnungstüre klingelte und ein mir Unbekannter mir ein Paket überreichte mit den Worten, dies sei von meinem Nachbarn, an mich adressiert, und hiermit würde es mir übergeben. Auf mein Unverständnis und Nachfragen hin erfuhr ich folgendes: Mein Nachbar war in der Frühe des Dienstags gestorben. In der Nacht zuvor war er auf dem Nachhauseweg in der Nähe des Bahnhofs von einem betrunkenen Wagenlenker angefahren worden und Stunden später im Spital an seinen inneren Blutungen verstorben. Das Paket, das an mich adressiert war, aber nicht aufgegeben worden war, hatte mich dennoch erreicht, denn, wenn ich mich recht erinnere, war es der Cousin des Verstorbenen, der die Wohnung meines Nachbarn auflöste, der das Paket bei den Aufräumarbeiten gefunden und zu mir gebracht hatte. Ich bedankte mich, stammelte ein paar Worte und zog mich in mein Zimmer zurück. Es war furchtbar still. Ich tat nichts, ich saß einfach in meinem Sessel. Als ich die Kordel, die das Paket einschnürte, löste, schien es mir, als würde ich Schnüre lösen, die zu einer Unendlichkeit gehörten und die in der Unendlichkeit geknüpft worden waren. Das Paket enthielt drei Dinge. Obenauf lag eine Photographie. Sie zeigte meinen Nachbarn, an einem Sommertag. Er schaute mich, den Betrachter an. Ich habe nie geradere Augen gesehen. Unter der Photographie befanden sich vier CD’s. Auf jeder einzelnen stand geschrieben: Das Johannesevangelium, dann folgten unterschiedliche Kapitel- und Verszählungen. Ich nahm die CD’s in meine Hände. Die Tränen liefen mir die Wangen hinab. Bei unserer Begegnung in seinem Zimmer, damals, im September, hatte mein Nachbar, als er mich ins Vorhaus brachte, wo wir uns verabschiedeten, zum Schluß, bevor er die Türe hinter mir schloß, noch gesagt: »Das Licht leuchtet in der Finsternis, nicht wahr.« Ich hatte ja gesagt, dann war ich weiter, die Stiegen hoch, in mein Zimmer. Und ich nahm den dritten Gegenstand aus dem Paket. Er war in Zeitungspapier eingewickelt. Es war sein Mauskript, sein abgelehntes Manuskript. Es ging auf Mittag zu. Von ferne hörte man die hölzernen Klappern. Ich begann zu lesen. »Mein Nachbar. Wir waren uns auf der Treppe begegnet, wie schon viele Male in den letzten Jahren, aber nie war es zu einem näheren Kontakt gekommen… «
Samstag, 1. September 2018
Der Nachbar II
»Es war an Weihnachten«, so mein Nachbar, »vor drei Jahren. Eine meiner Bekannten hatte mir vier CD’s geschenkt, aber nicht gesagt, worum es sich bei den Aufnahmen handelte. Sie hatte nur gesagt, ich solle sie mir anhören, es sei eine Überraschung. Ich hatte das Geschenk angenommen und dann zur Seite gelegt, ich hätte es mehr oder weniger vergessen, wenn nicht acht Tage später, es war am Neujahrstag, eine große Langeweile mich überfallen hätte. Alles ödete mich an. Mein Zimmer, die Stadt, die Leute, die Welt. Alles war schrecklich bekannt, nichts Neues weit und breit, immer derselbe Prozeß, der sich zwar neue Namen gab, aber unter jedem Namen kam, wenn der Lack abblätterte, die altbekannte nichtssagende Monotonie zum Vorschein, die ihrerseits, wenn ich ehrlich war, die verlogene Vokabel war für einen Befund, der als korrekte Diagnose den Begriff der Verzweiflung verdient gehabt hätte. In diesem Stadium fiel mir ein, daß ich irgendwo etwas hingelegt hatte, das ich an Weihnachten bekommen und nicht ausgepackt hatte. Ich suchte nach den CD’s und legte die erste in das Abspielgerät. Ich weiß die Stunde, da es war, es war früher Nachmittag, am ersten Jänner, um fünfzehn Uhr. Ich erwartete Musik, irgend etwas, ich rechnete nicht mit dem, was folgte. Nach einer längeren Stille begann eine Stimme. Sie setzte unmittelbar ein, ohne Erklärung, ohne Einleitung, ohne jedwede Vorbemerkung, da sie offensichtlich überzeugt war, daß das, was sie vortrug, genügte. Ich hätte das Gerät ausschalten können, ich hätte mich hinlegen und den ganzen Nachmittag schlafen können, auf der Liege oder in meinem Bett. Ich hätte irgend jemanden anrufen können. Ich hätte irgend etwas anderes machen können. Aber ich blieb und hörte zu. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt. Es gab nichts zu erwidern. Alles, was ich hörte, war wahr. Ich hörte und hörte. Die Worte waren Wasser. Ich trank und trank. Ich hatte wenige Minuten vorher nicht gewußt, welchen Durst ich hatte. Jetzt trank ich, die Worte drangen in mich ein, ich spürte sie in meinem Mund, in meiner Kehle, in meiner Speiseröhre. Ich roch ihren Duft, sie dufteten wie frisch gemähtes Heu und mein Durst entzündete gleichsam das Heu und es loderte in mir. Das Wort war unaufhaltsam. Es fiel auf trockenen Boden, auf rissige Erde, und es schaffte die Erde neu. Es war mein Zimmer, hier, in der Sterneckstraße, es war der erste Jänner, es war das Geschenk der Bekannten, das ich hörte, und meine Erde wurde neu geschaffen. Hatte ich mit geschlossenen Augen zugehört? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur dies: Ich hörte die Stimme und die Stimme sagte: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, und ich sah. Ich sah die Herrlichkeit dieses Nachmittags. Ich sah mein Fenster, das auf die gegenüberliegende Hauswand blickt, ich sah diesen Sessel und meine Hände und das Abspielgerät und das Licht dieses Nachmittags, das den Schnee auf den Fenstersimsen der gegenüberliegenden Häuserwand funkeln ließ. Kein Zweifel war möglich. Das Wort, das ich gehört hatte, hatte meine Augen geöffnet. Ich blieb still. Ich hörte staunend dem Wort weiter zu. Seht das Lamm Gottes, hörte ich. Ich hörte: Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt, und die Mutter Jesu war dabei. Ich hörte: Er, der von oben kommt, steht über allen. Er, der aus dem Himmel kommt, steht über allen. Was er gesehen und gehört hat, bezeugt er, doch niemand nimmt sein Zeugnis an. Und ich rief: Ich nehme dein Zeugnis an, ich nehme dein Zeugnis an. Und ich hörte immer zu: Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden?, und die Tränen liefen mir die Wangen hinab.«
Er sprach nicht von Vergangenem. Ich sah mein Gegenüber und sah die Tränen in seinen Augen schimmern. Ich sah seine ganze Freude und seine ganze Wehmut. Er sagte: »Ich bin ein Sünder. Schau«, und er schwieg. Dann sagte er:
»Am nächsten Tag ging ich zu meinem Augenarzt. Er machte auf mein Drängen hin einen Sehtest mit mir. Ich erkannte die Buchstaben und die Zahlen. Der Sehtest bestätigte, was ich bereits wußte. Der Jubel in mir war unbeschreiblich. Der Arzt sagte wenig. ‚Sie sehen’, sagte er. Dann sagte er, bezugnehmend auf meine Erfahrung vom Vortrag, die ich ihm in kurzen Worten während des Sehtests erzählt hatte: ‚Aber man wird Ihnen nicht glauben. Wir Menschen sind halt so, Sie dürfen uns keine Vorwürfe machen. Nicht jeder ist ein Mediziner und hat Geräte zur Verfügung, um mit Ihnen einen Sehtest zu veranstalten. Ich rate Ihnen, unauffällig weiter durch das Leben zu gehen. Freuen Sie sich über Ihre Besserung, aber behalten Sie sie für sich.’ ‚Ich kann sie nicht für mich behalten’, erwiderte ich. Aber er streckte bereits seine Hand zu mir hin, denn der nächste Patient im zweiten Ordinationszimmer wartete. Ich verließ die Arztpraxis und stand draußen, wo ab und an Schneeflocken aus der Höhe fielen. Zugleich mit dem Geschenk des Augenlichts hatte ich das Geschenk der Einsicht erhalten. Obwohl ich bislang nie Schnee gesehen hatte, wußte ich, dies ist Schnee. Und ich wußte auch alles andere: Daß dies eine Straßenbahn ist, und dies die Farbe rot, und dies der Himmel. Ich ging zu meinem Vater. Meine Mutter war vor vier Jahren gestorben, mein Vater lebte allein in seinem weiten Haus. Die Einsamkeit erdrückte ihn täglich, seine Gedanken kreisten um das immer selbe: Warum war er zurückgeblieben, während seine Gattin davongegangen war? Wir saßen im Wohnzimmer. Er erzählte Nebensächlichkeiten, die sein Leben waren. Ich versuchte, ihm zu erzählen, was mir passiert war. Es bedurfte mehrerer Anläufe. Er hörte zu, aber es kam mir vor, als hörte er einer fremden Geschichte zu, nicht der Geschichte seines Sohnes. Ich hätte einen Ausbruch der Freude erwartet, einen Umschwung, ein Ich-weiß-nicht-was, aber es blieb alles beim Alten. Als ich zu Ende erzählt hatte, war eine Pause, dann stand er auf und sagte, er müsse noch zum Friedhof. Er ging in das Vorhaus, wo sein Gewand hing. Ich begleitete ihn auf die Straße und die wenigen Schritte bis zur Kreuzung. Dann trennten wir uns.« (Fortsetzung folgt)
Er sprach nicht von Vergangenem. Ich sah mein Gegenüber und sah die Tränen in seinen Augen schimmern. Ich sah seine ganze Freude und seine ganze Wehmut. Er sagte: »Ich bin ein Sünder. Schau«, und er schwieg. Dann sagte er:
»Am nächsten Tag ging ich zu meinem Augenarzt. Er machte auf mein Drängen hin einen Sehtest mit mir. Ich erkannte die Buchstaben und die Zahlen. Der Sehtest bestätigte, was ich bereits wußte. Der Jubel in mir war unbeschreiblich. Der Arzt sagte wenig. ‚Sie sehen’, sagte er. Dann sagte er, bezugnehmend auf meine Erfahrung vom Vortrag, die ich ihm in kurzen Worten während des Sehtests erzählt hatte: ‚Aber man wird Ihnen nicht glauben. Wir Menschen sind halt so, Sie dürfen uns keine Vorwürfe machen. Nicht jeder ist ein Mediziner und hat Geräte zur Verfügung, um mit Ihnen einen Sehtest zu veranstalten. Ich rate Ihnen, unauffällig weiter durch das Leben zu gehen. Freuen Sie sich über Ihre Besserung, aber behalten Sie sie für sich.’ ‚Ich kann sie nicht für mich behalten’, erwiderte ich. Aber er streckte bereits seine Hand zu mir hin, denn der nächste Patient im zweiten Ordinationszimmer wartete. Ich verließ die Arztpraxis und stand draußen, wo ab und an Schneeflocken aus der Höhe fielen. Zugleich mit dem Geschenk des Augenlichts hatte ich das Geschenk der Einsicht erhalten. Obwohl ich bislang nie Schnee gesehen hatte, wußte ich, dies ist Schnee. Und ich wußte auch alles andere: Daß dies eine Straßenbahn ist, und dies die Farbe rot, und dies der Himmel. Ich ging zu meinem Vater. Meine Mutter war vor vier Jahren gestorben, mein Vater lebte allein in seinem weiten Haus. Die Einsamkeit erdrückte ihn täglich, seine Gedanken kreisten um das immer selbe: Warum war er zurückgeblieben, während seine Gattin davongegangen war? Wir saßen im Wohnzimmer. Er erzählte Nebensächlichkeiten, die sein Leben waren. Ich versuchte, ihm zu erzählen, was mir passiert war. Es bedurfte mehrerer Anläufe. Er hörte zu, aber es kam mir vor, als hörte er einer fremden Geschichte zu, nicht der Geschichte seines Sohnes. Ich hätte einen Ausbruch der Freude erwartet, einen Umschwung, ein Ich-weiß-nicht-was, aber es blieb alles beim Alten. Als ich zu Ende erzählt hatte, war eine Pause, dann stand er auf und sagte, er müsse noch zum Friedhof. Er ging in das Vorhaus, wo sein Gewand hing. Ich begleitete ihn auf die Straße und die wenigen Schritte bis zur Kreuzung. Dann trennten wir uns.« (Fortsetzung folgt)