Mittwoch, 28. September 2016

Ein Tag ohne Tod

Clavius Aquila Valerius Niger. Ein stattlicher Name. Damit läßt sich Karriere machen, zumal wenn man ein Tribun und ehrgeizig ist.

Aber was macht man bloß mit diesem störrischen Volk der Hebräer, wo der Tribun eingesetzt ist? Es ist ein rebellisches Volk, mal wieder im Aufruhr. Und unser Tribun (gespielt von Joseph Fiennes) hat alle Hände voll zu tun, um Jerusalem in Schach zu halten. Gerade hat man drei Männer gekreuzigt. Zweien von ihnen wurden bereits die Gebeine zerschlagen. Schon geht ein Soldat zum Dritten, zu dem in der Mitte. Aber der Militärtribun hat Mitleid mit der Mutter, die beim Kreuz steht, so daß er dem zuständigen Soldaten den Befehl gibt, den Dritten mit der Lanze zu durchbohren. Und Clavius schaut dem Toten, den sie Jeshua nennen, ins Gesicht.

In einem Gespräch mit dem Statthalter – müde und erschöpft, nach dem schrecklichen, blutigen Tag – antwortet Clavius auf die Frage des Pontius Pilatus, was er, Clavius, sich wünsche von der Macht, die er zu erringen strebe: »Reichtum, eine schöne Familie, irgendwann ein Haus auf dem Lande.« Und als Pilatus nachhakt: »Wo du was findest?«, erwidert der Erschöpfte: »Ein Ende der Mühsal. Einen Tag ohne Tod. Frieden.«

Doch von diesem Frieden kann keine Rede sein. Denn die Dinge laufen aus dem Ruder. Trotz Wachen vor der Grabhöhle, in die man den toten Jeshua gelegt hat, verschwindet der Tote. Er sei auferstanden, heißt es. Pontius Pilatus, der Vorgesetzte des Tribuns, fordert rasche Ruhigstellung im Land. Keine Auferstehung, keine Gerüchte, keine neuen Aufstände. Die Anhänger dieses Jeshua sollen zum Schweigen gebracht, die ganze Auferstehungsgeschichte als Schwindel entlarvt werden. Der Tribun kann sich nun bewähren. Der nächste Schritt auf der Karriereleiter ist wie vorprogrammiert.

Doch Clavius, der mehr als ein stupider Befehlsempfänger ist, der die Wahrheit hinter den Vorgängen will, der wissen will, was tatsächlich mit diesem Jeshua geschehen ist, der bereit ist, blutig zuzuschlagen, zugleich aber auch bereit, wirklich wahrzunehmen, er begegnet schließlich der Wahrheit: Er findet den Auferstanden mitten unter den verfolgten Jüngern. Und Clavius erkennt dieses Gesicht, diesen Mann, denn er hat ihn tot am Kreuz hängen sehen.

Nach dieser Begegnung ist alles anders. Clavius quittiert seinen Dienst. Er folgt dem Meister, gleichsam traumwandlerisch, in der Hoffnung, mehr zu erfahren, endgültig anzukommen. Und dann passiert das Folgende.

Er ist mit dem engsten Kreis der Jünger unterwegs nach Galiläa, am galiläischen See haben diese gefischt, vergeblich. Und plötzlich steht der Herr am Ufer. Er gibt den Jüngern den Befehl, das Netz noch einmal auszuwerfen. Und diesmal ist das Netz voller Fische. Und die Jünger und Clavius essen mit dem auferstandenen Herrn am Ufer.

Und dann kommt die Nacht. Diese wunderbare Nacht. Die Jünger schlafen. Doch Clavius Aquila Valerius Niger schläft nicht. Er schaut auf den Auferstandenen, der auf einer Anhöhe einsam betet. Und Clavius geht zu Ihm. Es ist die Begegnung im Dunkel der Nacht. Und der Herr fragt den Gekommenen: »Was ist es, was du suchst, Clavius?« Und Clavius schweigt. Und Jesus fragt weiter: »Gewißheit? Frieden?« Und da Clavius weiterhin schweigt, gibt der Auferstandene selbst schließlich die Antwort: »Einen Tag ohne Tod.«

Mehr bedarf es nicht. Ein Tag ohne Tod. Damit sind nicht nur die vielen Kriegstote gemeint im Leben des Soldaten Clavius. Damit sind alle Tode gemeint. Die Lieblosigkeiten, die tötenden Worte, die abertausenden Sinnlosigkeiten. Damit sind zugleich alle unsere Tode gemeint. Denn der tiefste Wunsch des Clavius’ ist unser aller Wunsch: Ein Tag ohne Tod. Denn wenn es diesen Tag gibt, dann gibt es ALLES. Dann ist der Fürst dieser Welt besiegt. Dann ist Clavius und dann sind wir alle frei.

Das letzte Bild: Clavius entledigt sich seines Siegelrings. Vor einigen Tagen noch hat er damit das Grab des Nazareners obrigkeitsstaatlich versiegelt. Damals. Damals, als es den Tod noch gab.

Mittwoch, 21. September 2016

Fast …

Keine Panik, wir werden jetzt nicht Werbung für eine Fast-Food-Kette machen. Letztlich geht es ja auch nicht um fast food, sondern … ja, worum geht’s eigentlich?

Darum, daß ich vor ein paar Tagen von einer jungen Frau, die in einem großen Modekonzern arbeitet, ein neues Wort gelernt habe: fast fashion. Damit ist gemeint, daß es billige Modeware gibt, die von Anfang an nicht gedacht ist als Gewand, welches man lange trägt, sondern vielmehr als ein Kleidungsstück, das man vielleicht einmal schnell überstreift – etwa zum Discobesuch – und danach in die Abfalltonne wirft. 4,99 Euro kostet das billige Stück, ein Auftritt genügt da. Am nächsten Samstag kaufe ich die nächste schnelle Konfektionsware. Hauptsache schnell: Schnell gekauft, schnell verbraucht, schnell entsorgt.

Denn an das Schnelle sollen wir uns gewöhnen. Schließlich gibt’s ja auch die schnelle Diät, bei der man in zwei Wochen zehn Kilo abnimmt, oder das schnelle Training, bei dem man in sechs Wochen endlich das Six Pack bekommt.

Dumm nur, daß es einen Bereich gibt, in dem das Schnelle nicht funktionieren will. Und das ist das Leben. Unser Leben. Denn das Leben hat mit Wachstum zu tun. Und Wachstum braucht Zeit.

Wir wissen es eigentlich alle. Man wird nicht von heute auf morgen ein Erwachsener, sondern das braucht Zeit. Da nützt kein an den Ohrenziehen und keine probiotische Joghurtkur. Wachsen heißt Reifen, und das braucht Zeit, denn gut Ding will Weile haben, wie es bereits der Volksmund sagt. Oder: Wenn schon Eile, dann mit Weile – festina lente.

Also: Fast life – das gibt’s nicht. Man kann zwar das Tempo erhöhen und Filme drehen, die Fast & Furious heißen, aber das Leben selbst hat dennoch seinen eigenen Rhythmus. Ob man will oder nicht: Neun Monate dauert er normalerweise am Anfang.

Da fällt uns eine Szene mit James Dean ein. Lang, lang ist’s her. In Jenseits von Eden ist Cal, gespielt von Dean, der rebellische Sohn, der es seinem Vater nie recht machen kann. Irgendwann versucht sich dann Dean im Anbau eines großen Gemüsefelds, um seinem Vater, dem Farmer, zu beweisen, daß auch in seinem mißratenen Sohn ein tüchtiger Bauer steckt. Und dann ist da folgende Szene: Dean, der seinen Acker inspiziert, legt sich auf die Erde, um gleichsam die Frucht beim Wachsen zu beobachten und zu erlauschen. Man spürt die ganze Ungeduld Deans, seine Rastlosigkeit, seinen verzweifelten Wunsch, endlich dem Übervater ein Ergebnis präsentieren zu können. Aber er muß warten, geduldig sein, denn das Wachsen der Frucht läßt sich nicht erzwingen. Es gilt, die Langsamkeit zu entdecken.

Wie sagte schon Platon (auch ein paar Jährchen her): »Man kann nicht denken, wenn man es eilig hat.«

Mittwoch, 14. September 2016

Ruanda und wir

Lourdes und Fatima sind bekannt. Kibeho gleichfalls?

In den Jahren 1981 bis 1989 erscheint die Gottesmutter Maria Schülerinnen aus dem ruandesischen Dorf Kibeho. Die Botschaften der Muttergottes, die sich als Mutter des Wortes vorstellt, sind denkbar einfach und einprägsam: Umkehr, Buße, Gebet und die sühnende, rettende Kraft des Leidens sind die wesentlichen Inhalte. Kehrt um, solange es noch Zeit ist, heißt es in einer Botschaft. Ein andermal: Die Welt rennt ins Verderben, sie droht in den Abgrund zu fallen.

Einmal sehen die Mädchen Ströme von Blut, Menschen, die einander umbringen, Bäume in Flammen. Die Seherinnen weinen und sind bis ins Mark getroffen.

Jahre später, 1994, werden die blutigen Flüsse Wirklichkeit. Innerhalb dreier Monate, von April 1994 bis Juli 1994, kommt es zum schrecklichen Völkermord in Ruanda. Angehörige des Stammes der Hutu, welche die ethnische Mehrheit in Ruanda bilden, töten in einer Art Blutrausch Stammesangehörige der Tutsi-Minderheit. Die Zahl der Ermordeten beläuft sich nach Schätzungen auf 800.000 Opfer. Marie-Claire, eine der Seherinnen, ist unter den Ermordeten.

Erschreckend auch dies: Der reiche Westen sieht dem Genozid im Grunde tatenlos zu. Die Friedenstruppen der UNO versagen, wirksame humanitäre Interventionen der sogenannten Ersten Welt bleiben aus. Das Blutbad nimmt derart ungehindert seinen Lauf. Filme, die auf wahren Begebenheiten beruhen – wie etwa Hotel Ruanda oder Shooting Dogs –, geben eine Ahnung vom erschütternden Ausmaß der Katastrophe und zeigen zugleich den heldenhaften Einsatz Einzelner – bis zur Hingabe ihres Lebens.

Ruanda. Kibeho. Fernes Afrika. Und wir?

2001 wurden die Erscheinungen der Muttergottes in Kibeho von der katholischen Kirche offiziell anerkannt. Kibeho ist heute Wallfahrtsort, eine große Kirche wurde gebaut. Der Ort selbst, an dem mehr als 200.000 Menschen während des Massakers ums Leben kamen, ist zu einer Stätte der Versöhnung geworden. Nathalie, eine der überlebenden Seherinnen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, hier zu leben und zu beten und zur Vergebung beizutragen. In einem Interview der österreichischen Missionzeitschrift missio sagt sie: »Maria gab uns eine Botschaft für die gesamte Menschheit: Die Welt hat den Weg eingeschlagen, der zum Tod führt. Sie wollte aber, daß wir Menschen den Weg des Heiles wählen. Und das ist Jesus Christus.«

Ein anderer, der in Kibeho lebt und wirkt, ist der Pallotinerpater Zbigniew Pawłowski. Er betreut als Priester die zahlreichen Pilger des Heiligtums. Er gibt in dem nämlichen Interview zu bedenken: »Grundsätzlich lag den Botschaften derselbe Inhalt zugrunde: Kehrt um, sonst gefährdet ihr euch selbst. Und ich finde, daß diese Botschaft ihre Aktualität nicht mit den traurigen Ereignissen des Jahres 1994 verloren hat. Wenn ich an Europa denke und wie dort mit dem Leben umgegangen wird – Abtreibungen, Euthanasie und dergleichen –, oder wie man Witze über die Kirche und den Glauben macht, dann mache ich mir ebenfalls Sorgen.«

Ja, wenn ich an Europa denke …

Dienstag, 6. September 2016

C’est la vie ?

Der Hund des Kommissars ist impotent. Die Frau des Kommissars hat Brüste mit Silikonimplantaten. Des Malers »ältester Weggefährte« ist sein Heizkessel. Olga, die schöne Russin, hat Beziehungen. Der Schriftsteller Michel H. hat Beziehungen und trinkt und wird ermordet. Und so weiter und so weiter.

Wohin man schaut in Michel Houellebecqs 400-Seiten-Roman Karte und Gebiet, grassiert die Tristesse, die freilich routiniert in Szene gesetzt wird. Wie man freilich als Rezensent einer einstmals berühmten deutschen Tageszeitung dahin kommt festzustellen, keiner beherrsche »die Entfremdung und Dekadenz unserer Epoche so genau und lustvoll wie Michel Houellebecq«, bleibt das Geheimnis des Rezensenten.

»Lustvoll«? – Davon ist Houellebecq meilenweit entfernt. Er zeigt vielmehr wie unter dem Seziermesser die Verwüstungen der Moderne oder auch Postmoderne, die allerdings bereits so alltäglich sind, daß sie normal sind. Über den Personen, über den Dingen, ja über der Welt in toto liegt der Schleier der Vergeblichkeit, und dieser Schleier ist, wie könnte es anders sein, grau. Das Glück ist weg. Gott ist weg. Was bleibt, sind Zuckungen, die Menschen halt so machen, wenn es gilt, die Leere zu füllen.

Denn die Leere muß gefüllt werden. Also sättigt sich der horror vacui mit Versatzstücken. Mit müden Reaktionen und Erinnerungen. Ein späterer Leser, falls es ihn noch gibt, mag sich denken: Ja, so muß es mal gewesen sein bei den letzten Erscheinungsformen der Gattung homo sapiens. Man lebte so dahin, das heißt man starb so dahin. Nichts Besonderes. Das Übliche halt. Nur ab und an ein seismographischer Ausschlag. Ein entsetzlicher Mord zum Beispiel. Aber genaugenommen paßt auch dieser in das Wachsfigurenkabinett der leblosen Postmoderne, das sich dreht und dreht und dreht, weil sich Karussells nun mal drehen. Und die Figuren drehen sich mit. Aber das drehende Karussell mit den lackierten Wägen und den grellbunten Kirmesfarben und den rotierenden Figuren dreht sich stumm. Denn das Karussell der Postmoderne, anders als die üblichen Jahrmarktsattraktivitäten, ist musiklos, freudlos. Da spielt noch nicht mal ein Leierkastenmann. Und das Ende ist kein Tusch, sondern der Triumph des leblosen Teppichs, der alles unter sich begräbt: »Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon«, so der letzte Satz des Romans.

C’est la vie, könnte man meinen und das Buch zuklappen.

Merkwürdig nur, daß Houellebecq selbst seinen seitenlang rotierenden Leerlauf durchkreuzt. Über sein im Roman auftretendes alter ego, den Schriftsteller Michel Houellebecq, der bestialisch ermordet wird, notiert er: »Zur Überraschung aller war bekannt geworden, daß sich der Autor der Elementarteilchen, der sein Leben lang einen kompromißlosen Atheismus vertreten hatte, sechs Monate zuvor (nämlich vor seiner Ermordung) in einer Kirche in Courtenay unauffällig hatte taufen lassen.«

Und merkwürdig schließlich, daß gegen Ende des Romans ein anderer der Protagonisten plötzlich radikal dreinschlägt in das tödliche Spinnwebnetz der dekadenten Entropie.

Jed, der Maler, fährt nach Zürich. Sein alternder, kranker Vater hat sich dort, bei dem berüchtigten Suizidunternehmen, die tödliche Dosis verabreichen lassen. Jed, der Sohn, will es genau wissen und sucht die Todesstätte auf. Er will die Akte seines Vaters einsehen, die man ihm widerwillig aushändigt. Und dann passiert’s. Nachdem er die Akte, die lediglich aus einem Blatt Papier besteht, der Funktionärin der Todesstätte wieder zurückgegeben hat, schlägt Jed zu. Er verpaßt der »Frau in hellem Kostüm« Ohrfeigen und Hiebe und Tritte, bis sie zu Boden stürzt. Dann verläßt er seelenruhig die Dignitas-Zentrale, wo, wie die Funktionärin zuvor vermeldet hatte, »die Prozedur«, sprich die Tötung von Jeds Vater, »ganz normal verlaufen« sei.

Das ist die unvermutete, gewalttätige Erregung Houellebecqs. Das Leben ringsum, so zeigt er auf Schritt und Tritt, ist nur mehr Abziehbild des Lebens. Eine Tätowierung unter anderen. Aber die Wahrheit, mag sie noch so sehr entstellt oder entleert oder auch unterdrückt sein, sie ist dennoch nicht auslöschbar. Die Wahrheit, daß der Mensch sich nach Leben sehnt – nicht nach Prozeduren, sondern nach wirklichem, echten, erfüllten Leben.

Grafik:   Jan Köhler / pixelio.de